Full text: Staatslexikon. Dritter Band: Kaperei bis Paßwesen. (3)

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das Recht, in Religionssachen zu urteilen und zu 
befinden. Aus der Natur der Kirche als einer 
vollkommenen, vom Staate unabhängigen Gesell- 
schaft ergibt sich insbesondere deren Recht auf die 
von katholischen Kindern besuchten Schulen, auf 
Erziehung und Anstellung ihres dem Staate nicht 
untergeordneten Klerus, auf freie Entfaltung des 
Ordenslebens, endlich das von staatlicher Ge- 
währung nicht bedingte Recht, Eigentum zu er- 
werben, zu besitzen und für kirchliche Zwecke zu 
verwalten (Coll. Lac. VII 572—578). 
Dies sind auch die Grundsätze, nach denen in 
den verschiedenen Schulen das prinzipielle 
Verhältnis zwischen Staat und Kirche definiert 
wurde. Nächster Zweck und unmittelbare Aufgabe 
des Staates ist, das gemeinsame irdische Wohl 
der menschlichen Gesellschaft zu fördern. Da aber 
das letzte Ziel des Menschen nach Gottes Willen 
übernatürlich ist, so darf der Staat nicht nur 
nicht die Erlangung des jenseitigen Zieles ver- 
hindern oder erschweren, sondern muf sie auf jede 
ihm mögliche Weise fördern. Die Kirche hat 
ihrerseits einen durchaus übernatürlichen Zweck, 
ist daher von der bürgerlichen Gesellschaft wesent- 
lich verschieden. Da ihr Christus aber alles ver- 
liehen hat, was sie zur Erreichung ihres Zweckes 
bedarf, so ist sie eine vollkommene Gesellschaft und 
der bürgerlichen Gewalt, deren Aktionssphäre 
innerhalb der natürlichen Grenzen bleibt, nicht 
unterstellt (vgl. Matth. 28, 18 f; 18, 17. 
2 Kor. 10, 6; 13, 10). Die Kirche ist daher eine 
in jeder Beziehung unabhängige und selbständige 
Gesellschaft. Die beiden von Gott gesetzten Ge- 
walten, die weltliche und die geistliche, haben 
ihrem Zweck entsprechend ihre bestimmten Grenzen, 
und jede ist auf ihrem Gebiete die höchste. Sie 
sind daher auch einander nicht subordiniert, son- 
dern koordiniert, und nur insofern kann von einer 
Abhängigkeit des Staates von der Kirche die 
Rede sein, als der Staat auf den höheren Zweck 
der Kirche Rücksicht zu nehmen hat (c. 13, X 4, 
19; c. 13, X 2, 1). Die Zugehörigkeit der 
nämlichen Individuen zur Kirche und zum Staat 
kann es bedingen, daß manche Angelegenheiten 
unter verschiedener Rücksicht dem Forum beider 
Gewalten angehören. Danach unterscheidet man 
res mere ecclesiasticae, d. h. solche, die direkt 
auf das übernatürliche Ziel des Menschen sich be- 
ziehen, res mere civiles, b. h. alles, was sich auf 
dem rein bürgerlichen Gebiet abspielt, und res 
mixtae, b. h. Angelegenheiten, die dem geistlichen 
und weltlichen Gebiete zugleich angehören, wenn 
auch nicht in der nämlichen Beziehung. Die 
ersteren, z. B. zur Ausübung des Lehramtes, 
Spendung der Sakramente usw., unterstehen 
allein und ausschließlich der kirchlichen Gewalt, 
während die res mere eiviles, z. B. Beobach-- 
tung von Staatsgesetzen, privatrechtliche Verpflich- 
tungen, für Laien und Geistliche vor das Forum 
der weltlichen Gewalt gehören. Die Reglung der 
fres mixtae, die teils geistlicher teils weltlicher 
Kirche und Staat. 
  
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Natur sind, kommt rechtlich beiden Gewalten für 
ihr Gebiet zu; ein einträchtliches Zusammengehen 
beider Gewalten unter Vermeidung von Streitig- 
keiten ist hier im öffentlichen Interesse beiderseits 
anzustreben. Das sind der Hauptsache nach die 
Grundsätze, nach denen prinzipiell das Verhältnis 
zwischen Staat und Kirche bestimmt ist. Das tat- 
sächliche Verhältnis weicht von dem prinzipiellen 
allerdings häufig wesentlich ab, da die Kirche oft 
als geringeres Übel von seiten des Staates sich 
die Rechte schmälern lassen muß, die sie kraft der 
ihr von ihrem göttlichen Stifter zugewiesenen Auf- 
gabe und Stellung grundsätzlich eigentlich bean- 
spruchen müßte. Es ist ja von vornherein klar, 
daß die Beziehungen der katholischen Kirche zum 
Staate verschieden sein müssen, je nachdem der 
Staat katholisch, paritätisch oder indifferent ist. 
In der nachstehenden Darstellung des geschichtlich 
gewordenen Verhältnisses zwischen Kirche und 
Staat, die für die Zwecke des Staatslexikons vor 
allem in Betracht kommen muß, wird das im ein- 
zelnen gezeigt werden. 
Im Verhältnis von Kirche und Staat ist ein 
Glied, die katholische Kirche, bleibender Natur; 
das andere, der Staat, kann sehr verschieden ge- 
artet sein. Daraus ergibt sich, daß für die Be- 
stimmung des tatsächlichen Verhältnisses zwischen 
Staat und Kirche eine feste, praktisch überall an- 
wendbare Formel nicht gefunden werden kann. 
Aber auch die katholische Kirche ist trotz ihrer Ein- 
heit nicht in allen Staaten gleich stark, woraus 
folgt, daß auch mit Rücksicht auf diesen Umstand 
ihr Verhältnis zu den einzelnen Staaten sich mo- 
difizieren kann. Andere Forderungen wird die 
Kirche in einem Staatswesen erheben, wo die 
katholische Religion als Staatsreligion anerkannt 
ist, andere dort, wo sie neben sich andere vom 
paritätischen Staat rezipierte Konfessionen dulden 
muß, andere endlich einem Staat gegenüber, in 
dessen Gebiet sie eben erst Bekenner wirbt. 
II. Gegenüber dem erbarmungsreichen Rat- 
schlusse Gottes, die Menschen zu erlösen, treten 
alle weltlichen und politischen Interessen in den 
Hintergrund. Deshalb lehnte der Heiland es ab, 
in der Streitfrage über die Legitimität der Römer- 
herrschaft in Palästina Stellung zu nehmen. Den 
bestehenden Gewalten, insbesondere durch Ent- 
richtung der Abgaben, der kaiserlichen (Reddite 
ergo, quae sunt Caesaris, Caesari, Matth. 22, 
21) wie der Tempelsteuer, sich unterzuordnen, 
trug der Gottmensch kein Bedenken. Auf der 
andern Seite handelte er völlig frei in der Aus- 
übung seines erhabenen Messiasberufes und trug 
in gleicher Weise seinen Jüngern und Aposteln 
auf, lediglich der ihnen gewordenen göttlichen 
Sendung nachzukommen, unbekümmert um den 
Widerstand der Schlechten, um die Verfolgung 
seitens der Mächtigen dieser Erde. Völlig der 
Lehre und dem Beispiele ihres göttlichen Meisters 
entsprechend, walteten die Apostel ihres Amtes, 
ohne dabei durch Verbote der jüdischen oder Ver-
	        
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