Full text: Staatslexikon. Dritter Band: Kaperei bis Paßwesen. (3)

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Kautionsstellung und besondern Abgaben. Des- 
halb einigte sich die schweizerische Eidgenossenschaft 
bald auch mit dem jungen Deutschen Reiche über 
eine vertragsmäßige Reglung der den beiderseitigen 
Angehörigen auf diesem Gebiete im einzelnen zu- 
zuweisenden Rechtsstellung. Der Niederlassungs- 
vertrag vom 27. April 1876 verbürgte dann den 
deutschen Reichsangehörigen in der Schweiz und 
den Schweizern im Deutschen Reiche hinsichtlich 
Niederlassung, Aufenthalt und Gewerbebetrieb 
grundsätzlich die gleichen Rechte wie den Inländern. 
Daneben regelte er einige andere, mit der Nieder- 
lassungsfrage zusammenhängende Punkte, insbe- 
sondere bezüglich der Ubernahme Ausgewiesener 
und der wechselseitigen Unterstützung Hilfsbedürf- 
tiger. Für die Gewährung der erwähnten Befug- 
nisse war aber notwendige formelle Voraussetzung 
die Erfüllung gewisser Vorschriften über Heimat- 
schein und Leumundszeugnis. Materiell wurde 
verlangt, daß die beiderseitigen Staatsangehörigen 
den inländischen Gesetzen und Polizeiverordnungen 
nachleben. Uberdies hatten sich die vertragschließen- 
den Teile noch gewisse Ausweisungsgründe, wie 
nicht hinlänglicher Lebensunterhalt, Gefährdung 
der Staatssicherheit oder der öffentlichen Sittlich- 
keit, Nichterfüllung der Militärdienstpflicht, ge- 
richtliches Urteil, besonders vorbehalten. Anläßlich 
der Affäre Wohlgemuth kam es jedoch zwischen 
den beiden Staaten zu Meinungsverschiedenheiten 
über die Auslegung des Legitimationsartikels. 
Die Folge war die Kündigung des Niederlassungs- 
vertrages seitens der deutschen Reichsregierung am 
20. Juli 1889. Aber schon am 31. Mai 1890 
wurde ein neuer Niederlassungsvertrag mit der 
schweizerischen Eidgenossenschaft abgeschlossen, der 
im wesentlichen mit dem früheren sich deckt. Na- 
mentlich sind grundsätzlich gleichgestellt die deut- 
schen Reichsangehörigen in der Schweiz den An- 
gehörigen der verschiedenen Kantone der Eidge- 
nossenschaft, und umgekehrt. Um jedoch die Fremden 
vor den Einheimischen nicht zu bevorzugen, berück- 
sichtigt dieses Prinzip der formellen Reziprozität 
entsprechend der staatsrechtlichen Natur der schwei- 
zerischen Eidgenossenschaft und des Deutschen 
Reiches gleichzeitig eine Angleichung der Gesamt- 
stellung der gegenseitigen Untertanen in jedem 
Einzelstaat bzw. Kanton an diejenigen der Unter- 
tanen der übrigen Gliedstaaten. Unter den son- 
stigen Bestimmungen sind noch diejenigen über die 
Verpflichtung zur Rückübernahme Ausgewiesener, 
über die Fürsorge für hilfsbedürftige Angehörige 
  
1 Um die in der Schweiz lebenden deutschen So- 
zialdemokraten zu überwachen, hatte der Polizei- 
inspektor Wohlgemuth aus Mülhausen (Elsaß) im 
Jahre 1889 mit einem gewissen Lutz Beziehungen 
angeknüpft und in einem Briefe an ihn die Worte 
gebraucht: „Wühlen Sie nur immer lustig darauf 
los!“ Dieser Brief fiel der Aargauer Polizei in die 
Hände. Als Wohlgemuth darauf selbst in die 
Schweiz kam, wurde er zuerst verhaftet und dann 
ausgewiesen. 
Niederlassung. 
  
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eines jeden Vertragsstaates sowie über die Legiti- 
mationsscheine der heimischen Gesandtschaften be- 
merkenswert. Gegenwärtig finden zwischen den 
beiden Staaten Verhandlungen wegen des Ab- 
schlusses eines neuen Niederlassungsvertrages ent- 
sprechend dem vom Deutschen Reich mit den 
Niederlanden am 17. Dez. 1904 errichteten 
Niederlassungsvertrag statt. Die Vorschriften dieses 
letzteren sind folgende: 
Art. 1: Die Angehörigen jedes vertragschließen- 
den Teiles sollen berechtigt sein, sich in dem Ge- 
biet des andern Teiles ständig niederzulassen oder 
dauernd oder zeitweilig aufzuhalten, wenn und so- 
lange sie die dortigen Gesetze und Polizeiverord- 
nungen befolgen. Um dieses Recht beanspruchen zu 
können, müssen sie mit gültigen Pässen oder an- 
dern genügenden Ausweispapieren über ihre Per- 
son und ihre Staatsangehörigkeit versehen sein. — 
Art. 2: Durch die Bestimmungen des Art. 1 wird 
nicht berührt das Recht jedes vertragschließenden 
Teiles, Angehörigen des andern Teiles die Nieder- 
lassung oder den Aufenthalt zu untersagen, sei es 
infolge eines gerichtlichen Urteils, sei es aus Grün- 
den der innern oder äußern Sicherheit des Staates, 
sei es, weil die Interessen der öffentlichen Gesund- 
heit oder Sittlichkeit es erfordern oder weil die 
Personen weder genügende Unterhaltsmittel besitzen 
noch durch ihre Arbeitskraft erwerben können. — 
Art. 3: Jeder vertragschließende Teil behält sich vor, 
den Angehörigen des andern Teiles, die ihm früher 
angehört und die Staatsangehörigkeit vor Erfül- 
lung ihrer militärischen Pflichten verloren haben, 
die Niederlassung oder den Aufenthalt zu unter- 
sagen. Jedoch soll von der Ausweisung abgesehen 
werden, wenn sich bei der Prüfung der Verhältnisse 
ergibt, daß der Wechsel der Staatsangehörigkeit in 
gutem Glauben und nicht zur Umgehung der mili- 
tärischen Pflichten herbeigeführt ist. Ebenso behält 
sich jeder Teil vor, solchen Angehörigen des andern 
Teiles die Niederlassung oder den Aufenthalt zu 
untersagen, welche in ihrem Heimatland ihre mili- 
tärischen Pflichten verletzthaben. — Art. 4: Die An- 
gehörigen jedes vertragschließenden Teiles, die sich 
in dem Gebiet des andern Teiles niedergelassen 
haben oder aufhalten, können in dem andern Lande 
weder zum persönlichen Dienste im Heer, in der 
Marine, im Landsturm oder in einem andern mi- 
litärisch eingerichteten Verbande noch zu einer Er- 
satzleistung angehalten werden. — Art. 6: Die An- 
gehörigen jedes vertragschließenden Teiles, die sich 
in dem Gebiet des andern Teiles niedergelassen 
haben oder aufhalten und gemäß Art. 2, 3 aus- 
gewiesen werden, sind mit ihrer Familie auf Ver- 
langen des ausweisenden Teiles jederzeit in ihr 
Heimatland wieder zu übernehmen. Das gleiche 
gilt für frühere Angehörige jedes Teiles, solange 
sie nicht Angehörige des andern Teiles oder eines 
dritten Staates geworden sind. — Art. 14: Dieser 
Vertrag findet keine Anwendung auf die Schutz- 
gebiete des Deutschen Reiches sowie auf die Kolonien 
und auswärtigen Besitzungen der Niederlande. 
Hiernach sind die Fortschritte, welche der deutsch- 
niederländische Niederlassungsvertrag aufweist, 
gegenüber dem bisherigen Rechtszustande auf dem 
Gebiete der internationalen Freizügigkeit recht er- 
heblich und nachahmenswert.
	        
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