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auf die außergewöhnlichen Zustände, unter denen
sie erfolgten, das Privileg der Straflosigkeit sichert,
ebenso muß auch der Staatsgewalt erlaubt und
geboten sein, in ausnahmsweisen Fällen von der
Befolgung des Regelrechts abzusehen und dagegen
in Ausübung des Staatsnotrechts jene Maßregeln
vorzukehren und jene Verfügungen zu erlassen,
welche, obgleich sie den Gesetzen und der Verfassung
widerstreiten, vom Zwang der Umstände gebie-
terisch diktiert werden. So verstehen wir denn unter
Staatsnotrecht das Recht der Staatsgewalt, in
dringender Gefahr und äußerster Notlage die vom
Untergang oder von schwerer Schädigung be-
drohten wesentlichen Interessen des Staats, wenn
nicht anders möglich, entgegen dem bestehenden
Regelrecht, ja selbst auf formell widergesetzliche
Weise zu schützen.
Den Grundgedanken des Staatsnotrechts bildet
der Satz: Salus publica suprema lex. Und es
wäre geradezu widersinnig, den Staat und die
Wohlfahrt aller preiszugeben oder erheblichen
Schaden leiden zu lassen und dafür am Buch-
staben des Gesetzes starr festzuhalten. Es können
eben Notlagen des Staats eintreten, in denen
sofort entsprechende Maßregeln getroffen werden
müssen, ohne daß man erst den umständlichen
Weg der Gesetzgebung zu beschreiten braucht. Des-
halb gewähren die Verfassungen der deutschen
Bundesstaaten den Monarchen in besondern Not-
lagen außerordentliche Befugnisse, das Gesetz durch
Verordnung wenigstens vorläufig zu durchbrechen.
Es sind damit die Notverordnungen oder
Verordnungen mit Gesetzeskraft als zu Recht be-
stehende Einrichtung begründet.
Für das Deutsche Reich wird die Zulässig-
keit von Notverordnungen, d. h. die Möglichkeit,
die formelle Gesetzeskraft im Wege der Verord-
nung im Falle eines Notstandes und wenn der
Reichstag nicht versammelt ist, von weitaus den
meisten Staatsrechtslehrern verneint. Laband (Das
Staatsrecht des Deutschen Reichs III/1901185ff)
widerlegt schlagend die von Arndt (Verordnungs-
recht, 1884) aufgestellte Ansicht, wonach der
Bundesrat befugt sei, Rechtsverordnungen, d. h.
Rechtsnormen im materiellen Sinne zu erlassen.
Demnach kann im Reich eine Verordnung, welche
Rechtsvorschriften enthält, nur gültig erlassen wer-
den auf Grund einer speziellen, reichsgesetzlichen
Delegation. Da dadurch natürlich Notlagen, die
ein sofortiges Eingreifen der Regierung notwendig
machen, nicht ausgeschlossen sind, bleibt für solche
Fälle nur das Indemnitätsverfahren. Die An-
ordnung wird unter formellem Rechtsbruch gegen
das Gesetz vorläufig getroffen in der Erwartung,
daß die gesetzgebenden Körperschaften die Notlage
anerkennen und durch nachträgliche Genehmigung
den Rechtsbruch heilen werden. Das gilt nament-
lich bei der Notwendigkeit außeretatsmäßiger Aus-
gaben(z. B. beider Chinaexpedition im Jahre 1900).
Die deutschen Landesverfassungen dagegen er-
kennen durchweg den Landesherren das Recht zu,
Staatslexikon. III. 3. Aufl.
Notrecht.
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unter gewissen Voraussetzungen solche Notverord-
nungen mit Gesetzeskraft zu erlassen. Voraus-
setzung für deren Erlaß ist in allen Verfassungen
ein ungewöhnlicher Notstand, über dessen Vor-
handensein naturgemäß die Entscheidung im
Ermessen der Regierung liegt. Da die Verfas-
sungen der einzelnen deutschen Staaten nach For-
men und Gegenständen das Notrecht verschieden
geregelt haben, so seien hier die wichtigsten Be-
sinmngen der einzelnen Bundesstaaten ange-
ührt.
Die preußische Verfassungsurkunde (Art. 63)
knüpft die Ausübung dieser außerordentlichen Ge-
walt an die vierfache Voraussetzung bzw. Be-
schränkung, daß 1) der Erlaß der Notverordnung
durch die Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicher-
heit oder die Beseitigung eines ungewöhnlichen
Notstandes dringend erfordert wird; 2) der Land-
tag zur Zeit nicht versammelt ist; 3) die Verord-
nung keine Bestimmung enthält, welche der Ver-
fassung zuwiderläuft, und 4) die Verordnung dem
Landtag bei dessen nächstem Zusammentritt sofort
zur Genehmigung vorgelegt werden muß. Die
dritte Bestimmung schließt also eine Abänderung
formellen Verfassungsrechts im Wege der Not-
verordnung aus. Die vierte überträgt dem Land-
tag auch das Recht zu prüfen: ob die Voraus-
setzungen für den Erlaß der Verordnung vorlagen,
und ob die verfassungsmäßigen Formen gewahrt
sind, vor allem auch, ob die Verordnung von
sämtlichen Ministern gegengezeichnet ist. Indes
kann in Preußen die Verletzung dieser Formvor-
schrift nur auf Grund der politischen Verantwort-
lichkeit der Minister vom Landtag gerügt werden;
diese Verantwortlichkeit kann hier wohl kaum im
äußersten Falle beim Mangel eines Minister-
verantwortlichkeitsgesetzes wirksam zur Geltung
gebracht werden (vgl. d. Art. Garantien, staats-
rechtliche, Bd II, Sp. 396 f). Wenn der Land-
tag die Genehmigung erteilt, dann ist der Mangel,
der der Notverordnung im Vergleich zum Gesetz
ursprünglich anhaftete, geheilt. Die vorherige
Zustimmung ist durch die nachträgliche Genehmi-
gung ersetzt. Die Verbindlichkeit nach außen be-
ruht auf der Verkündigung. Wenn die Volks-
vertretung die Genehmigung nicht erteilt oder nur
mit Abänderungen, so muß die Regierung die
Notverordnung außer Kraft setzen. Tut sie das
nicht, so liegt ein Verfassungskonflikt vor, dessen
Lösung zur politischen Machtfrage wird (vgl. ebd.
Sp. 39 Für die Zwischenzeit war aber die
Notverordnung in Kraft; sie verliert nicht nach
rückwärts ihre Wirkung, sondern tritt erst durch
die Zurücknahme außer Kraft. Alle unter ihrer
Herrschaft vorgefallenen Tatbestände sind daher
nach der Notverordnung zu beurteilen. — Neben
der Notverordnung bleibt auch das Indemni-
tätsverfahren bestehen, so namentlich bei
Etatsüberschreitungen.
In Bayern bleibt die Notverordnung be-
schränkt auf „polizeiliche Vorschriften mit Straf-
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