Full text: Staatslexikon. Dritter Band: Kaperei bis Paßwesen. (3)

androhung“, wenn eine anwendbare gesetzliche 
Bestimmung nicht existiert. Die Notverordnung 
kann sich daher lediglich auf dem Gebiet des öffent- 
lichen, nicht auf jenem des bürgerlichen Rechts be- 
wegen. Sie kann nur Gesetzesvorschriften im ma- 
teriellen Sinne: Gebote, Verbote, Strafdrohungen, 
enthalten. Sie kann innerhalb des Gebiets des 
öffentlichen Rechts nur auf bestimmte Zwecke sich 
beziehen, nämlich auf die Sicherheit des Staats 
oder auf den Schutz des Lebens, der Gesundheit 
oder des Vermögens der Staatsangehörigen. Sie 
kann kein bestehendes Gesetz ändern. Das Not- 
verordnungsrecht ist ferner bezüglich solcher Ma- 
terien völlig ausgeschlossen, welche durch das 
Reichsrecht erschöpfend geregelt sind. Die ange- 
drohte Strafe darf 150 M oder 30 Tage Haft 
nicht übersteigen. Die Anwendung des Notver- 
verordnungsrechts ist an folgende Voraussetzungen 
geknüpft: 1) daß zur Zeit des Erlasses der Not- 
verordnung der Landtag nicht versammelt ist; 
2) daß die Notverordnung zur Abwendung einer 
dringenden Gefahr erforderlich ist; 3) daß in 
keinem Gesetz eine anwendbare Vorschrift oder die 
Befugnis zum Erlaß derselben vorgesehen ist. 
Notverordnungen müssen der nächsten Landtags- 
versammlung zur Zustimmung vorgelegt werden. 
Sie treten von selbst außer Wirksamkeit, wenn 
diese Zustimmung vor dem Schluß oder der Ver- 
tagung des Landtags nicht erfolgt ist (Bayr. 
P. St. G. B. vom 26. Dez. 1871, Art. 9; vgl. 
v. Seydel, Bayrisches Staatsrecht II (1896 
330). 
Die Verfassungsurkunde des Königreichs Sach- 
sen bestimmt in § 88: „Der König erläßt auch 
solche, ihrer Natur nach der ständischen Zustim- 
mung bedürfende, aber durch das Staatswohl 
dringend gebotene Verordnungen, deren vorüber- 
gehender Zweck durch Verzögerung vereitelt werden 
würde.“ Da im Abs. 2 desselben § 88 von „der 
nächsten Zusammenkunft der Stände“ gesprochen 
wird, so ergibt sich, daß die sächsische Verfassungs- 
urkunde ebenso, wenn auch nur stillschweigend, die 
Bedingung der meisten andern deutschen Ver- 
fassungen übernommen hat, daß die Notverord- 
nung nur erlassen werden darf, wenn die Volks- 
vertretung nicht versammelt ist. An weiteren 
Einschränkungen sieht die sächsische Verfassungsur= 
kunde folgende Bestimmungen vor: die Notverord- 
nung darf weder gegen eine Verfassungsbestimmung 
noch gegen das Wahlgesetz verstoßen (8 88, Abs. 1), 
andere Gesetze überwindet also die Notverord- 
nung; sie kann ferner nur erlassen werden unter 
Gegenzeichnung sämtlicher Minister (§88, Abs. 2). 
Endlich muß sie den Ständen bei ihrer „näch- 
sten Zusammenkunft“, d. h. vor dem Schluß des 
nächsten Landtags, vorgelegt werden. Geschieht 
das nicht rechtzeitig oder wird die Genehmigung 
verweigert, so ist die Regierung verpflichtet, die 
Notverordnung unverzüglich zurückzunehmen. Die 
Zurücknahme kann auch schon vorher erfolgen. 
Sie geschieht in Form einer gewöhnlichen König- 
  
lichen Verordnung. Erst durch die Veröffentlichung 
der Zurücknahme tritt die Notverordnung außer 
Kraft. Wird aber die Genehmigung erteilt, so 
bekommt dadurch die Notverordnung die Natur 
eines Gesetzes mit der Wirkung, daß eine Ande- 
rung oder Zurücknahme fortan nur in Form eines 
Gesetzes erfolgen kann. 
Die württembergische Verfassungsurkunde 
enthält als Ausnahme von dem in 8 88 ausge- 
sprochenen Grundsatz, daß ohne Zustimmung der 
Stände kein Gesetz gegeben, aufgehoben oder ab- 
geändert werden kann, in § 89, und zwar in un- 
mittelbarem Anschluß an das Recht des Königs, 
Ausführungsverordnungen zu erlassen, den ganz 
allgemeinen Satz, daß der König auch berechtigt 
sei, „in dringenden Fällen zur Sicherheit des 
Staats das Nötige vorzukehren“. Wir sehen, daß 
die Schranken, welche andere Staatsverfassungen, 
wie z. B. die preußische Verfassungsurkunde in 
88 63, 106, die sächsische in 8 88, die bayrische 
und andere, diesem Recht dahin gezogen haben, 
daß durch eine Notverordnung die Verfassung nicht 
abgeändert, und daß eine solche Verordnung nur 
erlassen werden darf, wenn die Kammern nicht 
versammelt sind, und daß sie nur gilt, bis die- 
selben zusammentreten, in Württemberg gänzlich 
fehlen. In Württemberg kann der König durch eine 
einfache Verordnung, die von einem Minister 
gegengezeichnet sein muß, jede Anderung des be- 
stehenden Rechtszustandes gültig anordnen, also 
auch eine Verfassungsbestimmung abändern oder 
außer Wirkung setzen. Die einzige Voraussetzung 
dieser sog. Notverordnung ist, daß nach dem pflicht- 
mäßigen Ermessen der Staatsregierung die Sicher- 
heit des Staats die angeordnete Verfügung und 
die sofortige Erlassung derselben fordert. Eine 
Anführung der Gründe oder auch nur eine aus- 
drückliche Berufung auf die angebliche Notlage ist 
nicht vorgeschrieben. Eine solche Maßregel kann 
auch verfügt werden, solange die Stände versam- 
melt sind. Die Notverordnung hat dieselbe Wir- 
kung wie ein mit den Ständen ordnungsmäßig 
verabschiedetes Gesetz; ihre Wirkung dauert daher 
fort, bis sie im Wege der Gesetzgebung, also 
durch Zusammenwirken sämtlicher Faktoren oder 
durch eine neue Notverordnung, aufgehoben oder 
abgeändert wird. Sie tritt also nicht außer Kraft, 
wenn die Stände zusammentreten oder ihre Ein- 
willigung versagen; materiell gerechtfertigt ist sie 
aber nach der Verfassungsurkunde nur so lange, als 
die Sicherheit des Staats ihre Fortdauer verlangt. 
Den Ständen steht, wenn sie glauben, daß die 
Voraussetzungen des § 89 nicht vorlagen oder 
nicht mehr vorliegen, das Recht der Minister- 
anklage zu (vgl. über Ministerverantwortlichkeit d. 
Art. Garantien, staatsrechtliche, Bd II, Sp. 399). 
Die Notverordnung würde aber dadurch, selbst 
wenn die Anklage Erfolg hätte, nicht beseitigt. In 
die Wirksamkeit von Reichsgesetzen kann durch eine 
landesherrliche Notverordnung nicht eingegriffen 
werden. 
 
	        
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