Full text: Staatslexikon. Dritter Band: Kaperei bis Paßwesen. (3)

1391 
Die Verfassungen aller heutigen Kulturstaaten 
find abgedruckt in: Posener, Die Verfassungen des 
Erdballs (1909). lE. Baumgartner.)] 
Notwehr, Notstand. lI. Notwehre recht- 
liche Natur; geschichtlicher Uberblick; wesentliche 
Merkmale; geltendes Recht; Notwehrüberschrei- 
tung. II. Notstand: Begriff und Natur; Ge- 
schichtliches; wesentliche Merkmale; geltendes 
echt.) 
) Aotwehr ist die zur Abwehr eines gegen- 
wärtigen rechtswidrigen Angriffs erforderliche Ver- 
teidigung durch Verletzung rechtlich geschützter 
Interessen des Angreifers (Liszt). Das Bleibende 
in der wechselvollen Gestaltung dieses Begriffs ist, 
daß der Kampf aufgezwungen ist, daß er den 
Charakter der Verteidigung besitzt, und daß der 
abzuwehrende Angriff rechtswidrig ist. Das Recht 
der Notwehr ergibt sich aus der Erwägung, daß 
die Selbstverteidigung gegen böswillige Angriffe 
auf seine Person oder seine Rechtsgüter ein Ur- 
recht des Menschen ist, eine Betätigung des Selbst- 
erhaltungstriebs, die ihm das Recht nicht ver- 
bieten darf, ohne sich in schärfsten Widerspruch mit 
seiner Aufgabe zu setzen, ferner aus der Erwägung, 
daß das Recht dem angreifenden Unrecht nicht zu 
weichen braucht, und endlich, daß die Nothilfe ein 
Recht, unter Umständen sogar eine Pflicht der 
Volksgenossen ist. 
Im römischen Recht ist das Recht der Notwehr, 
ausgehend vom ius gentium (vgl. 1. 1, § 4 D. 
de iustitia et de iure 1, 1I1 .ut vim atque 
iniuriam propulsemus) und im offenbaren 
Gegensatz zum ius civile, mit der Tötung eines 
Feindes in Verbindung gebracht, jedoch nicht nur 
des Feindes in offener Feldschlacht, sondern auch 
des heimlichen, der uns an Leib und Leben geht. 
Silent enim leges inter arma ist die Grund- 
regel des römischen Militärrechts; klar und be- 
stimmt sagt l1. 1, 8 27 D. de vi et de vi ar- 
mata 43, 16: Vim vi repellere licere Cassius 
scribit, idque ius natura comparatur. Die 
Notwehr ist ihm ein Recht; aber hier wie in den 
andern zahlreichen Quellenstellen, die von der ge- 
waltsamen Zurückweisung eines ungerechtfertigten 
Angriffs handeln, fehlt ihre allgemeine Begriffs- 
bestimmung. — Auf anderer Grundlage stand die 
Notwehr im kanonischen Recht: die Notwehr- 
handlung ist nach ihm rechtswidrig, sie soll aber 
nicht bestraft werden, sofern sie echt und recht, d. h. 
nur notwendige und nicht selbstverschuldete Ver- 
teidigung ist. — In den germanischen Rechten 
steht die Notwehr in engem Zusammenhang mit 
der Rache und mit der straflosen Tötung eines 
friedlos gewordenen Missetäters; sie richtet sich 
nicht nur gegen den Angreifer auf Leib und Leben, 
sondern auch gegen den nächtlicherweile einbrechen- 
den Dieb, den Dieb an Holz und Wild und den 
ertappten Ehebrecher. — Die spätere deutsch-recht- 
liche Entwicklung schließt sich an das Fehderecht 
an, wird aber mit dem wachsenden Einfluß der 
fremden Rechte immer mehr von ihm losgelöst. 
Notwehr usw. 
  
1392 
Zubeachten ist dabei, daß die „Peinliche Gerichts- 
ordnung“ Kaiser Karls V. die Notwehr nur straf- 
los läßt, wenn der Angegriffene „ohne Fährlich- 
keit oder Verletzung seines Leibes, Lebens, seiner 
Ehre und guten Leumundes nicht entweichen kann“ 
(Art. 140). Das gemeine deutsche Recht bringt 
dann die rechtlichen Merkmale der Notwehr zu 
schärferer Feststellung. In seiner weiteren Ent- 
wicklung gestattet es die Notwehr bei allen An- 
griffen auch auf das Vermögen und die Ehre; 
gerade infolge dieser Ausdehnung des sachlichen 
Schutzbereichs aber steigen Zweifel auf, ob die 
Notwehr nicht eigentlich doch schuldhaft (culpa- 
bilis), wenn auch nicht strafbar (punibilis) sei. 
Gegen Ende des 18. und im 19. Jahrh. wurde 
die Notwehr, die bis dahin stets im Anschluß an 
die Tötung behandelt worden war, aus dieser 
Verbindung gelöst und in den Lehrbüchern des 
Strafrechts wie auch in den Gesetzbüchern in den 
allgemeinen Teil gestellt. In dem „Strafgesetz= 
buch für die preußischen Staaten“ vom 14. April 
1851 (58 41) finden wir den Begriff schon in fast 
wörtlicher Ubereinstimmung mit dem noch gelten- 
den deutschen St. G. B. vom 15. Mai 18718583) 
und mit dem B. G. B. (5 227) festgestellt. Das 
österreichische St.G. B. vom 27. Mai 1852 führt 
die Notwehr unter den Gründen auf, die den 
bösen Vorsatz ausschließen. Dies hat im Gegen- 
satz zu der Begriffsbestimmung des preußischen 
Rechts die unrichtige Auffassung veranlaßt, das 
Gesetz billige bei der Notwehr Straflosigkeit aus 
dem Grunde der Zurechnungsunfähigkeit wegen 
mangelnder Willensfreiheit zu. Das Gesetz läßt 
aber durch die Hervorhebung der Arten des An- 
griffs und den Hinweis darauf, daß der Täter 
sich nur der nötigen Verteidigung bedient habe, 
zweifelsfrei erkennen, daß es der Notwehr Rechts- 
charakter zubilligt, zumal es sie ausdrücklich eine 
gerechte nennt und auch das Gesetzbuch von 1803 
(6 27) ausdrücklich sagt, wer jemand in An- 
wendung einer gerechten Notwehr töte, begehe 
„kein Verbrechen“. 
Wesentliche Merkmale der Notwehr sind: 1) Ein 
Angriff, d. h. ein feindseliges Vorgehen gegen 
die Rechtssphäre eines andern. In einem bloßen 
Unterlassen kann niemals ein Angriff liegen. Der 
Angriff muß 2) ein gegenwärtiger sein. Er 
muß bereits begonnen haben und darf noch nicht 
beendigt sein. Begonnen hat er jedoch schon mit 
der Vornahme derjenigen Handlungen, die als 
Ziel den Eingriff zweifelsfrei und als unmittelbar 
bevorstehend erkennen lassen. Die Gegenwehr 
braucht nicht aufgeschoben zu werden, bis der An- 
greifer den ersten Schlag getan, den ersten Schuß 
abgefeuert hat; sie kann bereits einsetzen, wenn er 
den Stock erhebt oder die Flinte anlegt. Die 
Verteidigung durch Selbstgeschosse (Fußangeln, 
Fangeisen u. dgl.) ist Notwehr, wenn sie erst 
im Augenblick eines Angriffs in Tätigkeit treten 
und soweit sie nicht die Grenzen der notwendigen 
Verteidigung überschreiten. Wann der Angriff
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.