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Die Verfassungen aller heutigen Kulturstaaten
find abgedruckt in: Posener, Die Verfassungen des
Erdballs (1909). lE. Baumgartner.)]
Notwehr, Notstand. lI. Notwehre recht-
liche Natur; geschichtlicher Uberblick; wesentliche
Merkmale; geltendes Recht; Notwehrüberschrei-
tung. II. Notstand: Begriff und Natur; Ge-
schichtliches; wesentliche Merkmale; geltendes
echt.)
) Aotwehr ist die zur Abwehr eines gegen-
wärtigen rechtswidrigen Angriffs erforderliche Ver-
teidigung durch Verletzung rechtlich geschützter
Interessen des Angreifers (Liszt). Das Bleibende
in der wechselvollen Gestaltung dieses Begriffs ist,
daß der Kampf aufgezwungen ist, daß er den
Charakter der Verteidigung besitzt, und daß der
abzuwehrende Angriff rechtswidrig ist. Das Recht
der Notwehr ergibt sich aus der Erwägung, daß
die Selbstverteidigung gegen böswillige Angriffe
auf seine Person oder seine Rechtsgüter ein Ur-
recht des Menschen ist, eine Betätigung des Selbst-
erhaltungstriebs, die ihm das Recht nicht ver-
bieten darf, ohne sich in schärfsten Widerspruch mit
seiner Aufgabe zu setzen, ferner aus der Erwägung,
daß das Recht dem angreifenden Unrecht nicht zu
weichen braucht, und endlich, daß die Nothilfe ein
Recht, unter Umständen sogar eine Pflicht der
Volksgenossen ist.
Im römischen Recht ist das Recht der Notwehr,
ausgehend vom ius gentium (vgl. 1. 1, § 4 D.
de iustitia et de iure 1, 1I1 .ut vim atque
iniuriam propulsemus) und im offenbaren
Gegensatz zum ius civile, mit der Tötung eines
Feindes in Verbindung gebracht, jedoch nicht nur
des Feindes in offener Feldschlacht, sondern auch
des heimlichen, der uns an Leib und Leben geht.
Silent enim leges inter arma ist die Grund-
regel des römischen Militärrechts; klar und be-
stimmt sagt l1. 1, 8 27 D. de vi et de vi ar-
mata 43, 16: Vim vi repellere licere Cassius
scribit, idque ius natura comparatur. Die
Notwehr ist ihm ein Recht; aber hier wie in den
andern zahlreichen Quellenstellen, die von der ge-
waltsamen Zurückweisung eines ungerechtfertigten
Angriffs handeln, fehlt ihre allgemeine Begriffs-
bestimmung. — Auf anderer Grundlage stand die
Notwehr im kanonischen Recht: die Notwehr-
handlung ist nach ihm rechtswidrig, sie soll aber
nicht bestraft werden, sofern sie echt und recht, d. h.
nur notwendige und nicht selbstverschuldete Ver-
teidigung ist. — In den germanischen Rechten
steht die Notwehr in engem Zusammenhang mit
der Rache und mit der straflosen Tötung eines
friedlos gewordenen Missetäters; sie richtet sich
nicht nur gegen den Angreifer auf Leib und Leben,
sondern auch gegen den nächtlicherweile einbrechen-
den Dieb, den Dieb an Holz und Wild und den
ertappten Ehebrecher. — Die spätere deutsch-recht-
liche Entwicklung schließt sich an das Fehderecht
an, wird aber mit dem wachsenden Einfluß der
fremden Rechte immer mehr von ihm losgelöst.
Notwehr usw.
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Zubeachten ist dabei, daß die „Peinliche Gerichts-
ordnung“ Kaiser Karls V. die Notwehr nur straf-
los läßt, wenn der Angegriffene „ohne Fährlich-
keit oder Verletzung seines Leibes, Lebens, seiner
Ehre und guten Leumundes nicht entweichen kann“
(Art. 140). Das gemeine deutsche Recht bringt
dann die rechtlichen Merkmale der Notwehr zu
schärferer Feststellung. In seiner weiteren Ent-
wicklung gestattet es die Notwehr bei allen An-
griffen auch auf das Vermögen und die Ehre;
gerade infolge dieser Ausdehnung des sachlichen
Schutzbereichs aber steigen Zweifel auf, ob die
Notwehr nicht eigentlich doch schuldhaft (culpa-
bilis), wenn auch nicht strafbar (punibilis) sei.
Gegen Ende des 18. und im 19. Jahrh. wurde
die Notwehr, die bis dahin stets im Anschluß an
die Tötung behandelt worden war, aus dieser
Verbindung gelöst und in den Lehrbüchern des
Strafrechts wie auch in den Gesetzbüchern in den
allgemeinen Teil gestellt. In dem „Strafgesetz=
buch für die preußischen Staaten“ vom 14. April
1851 (58 41) finden wir den Begriff schon in fast
wörtlicher Ubereinstimmung mit dem noch gelten-
den deutschen St. G. B. vom 15. Mai 18718583)
und mit dem B. G. B. (5 227) festgestellt. Das
österreichische St.G. B. vom 27. Mai 1852 führt
die Notwehr unter den Gründen auf, die den
bösen Vorsatz ausschließen. Dies hat im Gegen-
satz zu der Begriffsbestimmung des preußischen
Rechts die unrichtige Auffassung veranlaßt, das
Gesetz billige bei der Notwehr Straflosigkeit aus
dem Grunde der Zurechnungsunfähigkeit wegen
mangelnder Willensfreiheit zu. Das Gesetz läßt
aber durch die Hervorhebung der Arten des An-
griffs und den Hinweis darauf, daß der Täter
sich nur der nötigen Verteidigung bedient habe,
zweifelsfrei erkennen, daß es der Notwehr Rechts-
charakter zubilligt, zumal es sie ausdrücklich eine
gerechte nennt und auch das Gesetzbuch von 1803
(6 27) ausdrücklich sagt, wer jemand in An-
wendung einer gerechten Notwehr töte, begehe
„kein Verbrechen“.
Wesentliche Merkmale der Notwehr sind: 1) Ein
Angriff, d. h. ein feindseliges Vorgehen gegen
die Rechtssphäre eines andern. In einem bloßen
Unterlassen kann niemals ein Angriff liegen. Der
Angriff muß 2) ein gegenwärtiger sein. Er
muß bereits begonnen haben und darf noch nicht
beendigt sein. Begonnen hat er jedoch schon mit
der Vornahme derjenigen Handlungen, die als
Ziel den Eingriff zweifelsfrei und als unmittelbar
bevorstehend erkennen lassen. Die Gegenwehr
braucht nicht aufgeschoben zu werden, bis der An-
greifer den ersten Schlag getan, den ersten Schuß
abgefeuert hat; sie kann bereits einsetzen, wenn er
den Stock erhebt oder die Flinte anlegt. Die
Verteidigung durch Selbstgeschosse (Fußangeln,
Fangeisen u. dgl.) ist Notwehr, wenn sie erst
im Augenblick eines Angriffs in Tätigkeit treten
und soweit sie nicht die Grenzen der notwendigen
Verteidigung überschreiten. Wann der Angriff