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Der Notwehr gleichgeachtet ist die Nothilfe,
d. h. die zur Verteidigung eines andern aus-
geübte Notwehrhandlung. Auch bei ihr müssen
sämtliche wesentliche Merkmale der Notwehr vor-
handen sein, um dem Täter Straflosigkeit zu
sichern; dann aber ist sie im selben Umfang ge-
stattet wie die Notwehr.
Die oben erörterten wesentlichen Merkmale der
Notwehr finden sich in der wörtlich übereinstim-
menden Begriffsbestimmung der Notwehr im
deutschen St. G. B. (68 53) und im B. G. B.
(*5227) wieder. Nach beiden ist „Notwehr die-
jenige Verteidigung, die erforderlich ist, um einen
gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff von sich oder
einem andern abzuwenden“. Beide Gesetze sagen
auch ganz entsprechend, das St.G.B.: „Eine
strasbare Handlung ist nicht vorhanden, wenn die
Handlung durch Notwehr geboten war“ (§ 53,
Abs. 1), und das B.G.B.: „Eine durch Notwehr
gebotene Handlung ist nicht widerrechtlich.“ Beide
Gesetze erreichen damit das gleiche Ziel: den Täter
in Notwehr von den nach den allgemeinen Be-
stimmungen verwirkten Folgen seiner ihm aufge-
zwungenen Handlungen zu befreien. Sie gewähren
ihm auch beide in gleicher Weise Schutz bei Not-
wehrüberschreitung: das St.G.B., indem es sie,
falls sie in Bestürzung, Furcht oder Schrecken ge-
schah, ganz allgemein für straflos erklärt (8 53,
Abs. 3), das B.G.B., indem auf Grund seiner
allgemeinen Bestimmungen über die Verpflichtung
zum Schadensersatz der Handelnde in den gleichen
Fällen und bei entschuldbarem Irrtum nicht zum
Ersatz des angerichteten Schadens verpflichtet ist.
— Eine alte Streitfrage des Strafrechts, ob es
eine Notwehr gegen Tiere gebe, entscheidet das
B.G. B. durch § 228 für das deutsche Recht end-
gültig dahin, daß es gegenüber dem Angriff von
Tieren nur Notstand, nicht aber Notwehr gibt.
II. Notstand. Handelt es sich bei der Notwehr
um die Behauptung des Rechts gegenüber dem
Unrecht, so steht im Falle des Notstands dem zu
behauptenden Recht gleichfalls Recht gegenüber.
Notstand liegt vor, wenn eine dem eignen Rechts-
gut drohende, nicht aus einem widerrechtlichen
Angriffe entspringende Gefahr nur durch einen
Eingriff in ein fremdes Rechtsgut abgewendet
werden kann. Der im Notstand Handelnde
greift also in äußerster Gefahr fremdes Gut an,
verletzt die fremde Rechtssphäre; er tut, was zu
unterlassen man billigerweise von ihm nicht ver-
langen kann. Im Anschluß daran vertrat eine
ältere, auf Kant und Feuerbach zurückführende
Ansicht den Standpunkt, der durch den Notstand
verursachte unwiderstehliche Zwang schließe die
Zurechnungsfähigkeit aus. Sie ist heute mit Recht
aufgegeben. Niemand verwirkt die eignen Rechts-
güter und den Anspruch auf ihren Schutz, weil
sich ein anderer in Gefahr und Bedrängnis be-
findet. Dieser aber kann unter Hinweis auf seinen
gefahrvollen Zustand Anspruch darauf erheben,
daß ihm ein Ausweg daraus eröffnet werde, dessen
Notwehr usw.
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Beschreiten ihn nicht der Bestrafung aussetzt. Das
Wesen des Notstands besteht eben in dem Wider-
streit berechtigter Interessen, von denen jedes nur
auf Kosten des andern erhalten werden kann. Die
Notstandshandlung findet dementsprechend ihren
letzten Grund in der Erwägung, daß es unwirt-
schaftlich wäre, sollte ein großes, hochwertiges
Rechtsgut nicht auf Kosten eines unverhältnis-
mäßig kleinen und geringwertigen erhalten werden
dürfen. Die Rechtsordnung gibt deshalb unter be-
stimmten Voraussetzungen, regelmäßig bei Wah-
rung eines überwiegenden Interesses, ausnahms-
weise aber auch, wenn gleichwertige Rechtsgüter
gegeneinander stehen, dem Bedrohten ein Notrecht,
sein Rechtsgut durch Aufopferung eines fremden
zu wahren. Der Notstand muß demnach unter die
Umstände eingereiht werden, durch die die Rechts-
widrigkeit der Handlung ausgeschlossen wird (be-
stritten).
Das römische Recht spricht an vielen Stellen
vom Notstand (vgl. 1. 3, § 7 D. de incendio
47, 9; I. 49 D. ad leg. Aquil. 9, 2; 1. 1 D.
de leg. Rhod. 14, 2 u. a. m.), handelt aber
stets nur über Einzelfälle und gelangt nirgends
zu einer Festlegung des Notstandsbegriffs. —
Die wichtigste Stelle des kanonischen Rechts Ne-
cessitas legem non habet bezieht sich darauf,
daß das Meßopfer nur in Fällen zwingender Not
an andern als den zum Gottesdienst geweihten
Orten gefeiert werden dürfe. Allgemeiner spricht
sich c. 4, X de reg. iur. 5, 41 aus: Quod non
est licitum lege, necessitas facit licitum;
doch erscheint dieser Grundsatz, insoweit er auf
dem Gebiet des Strafrechts in Betracht kommt,
in einzelnen Anwendungsfällen nur als Grund
für eine mildere Bestrafung. Aus dem kanonischen
Recht schöpft die Peinliche Gerichtsordnung. Sie
verweist in Art. 166 bezüglich dessen, der „durch
rechte Hungersnot, die er, sein Weib oder seine
Kinder leiden, etwas von essenden Dingen zu
stehlen geursacht würde", auf den Rat der Rechts-
verständigen (vgl. auch Art. 175). Das gemeine
deutsche Recht hat trotz mancher Anläufe zu einer
Verallgemeinerung des Begriffs die Frage ebenso-
wenig vertieft wie die Gesetzgebungen am Aus-
gang des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhun-
derts. Die Lehrbücher und Abhandlungen beschäf-
tigen sich wohl mit Untersuchungen über den wahren
Grund der Straflosigkeit bei Notstandshandlungen,
insbesondere des seelischen Zwanges, und mit
wenig fruchtbaren Erörterungen darüber, welchen
Gütern als den wichtigsten die geringeren im
Widerstreit weichen müßten. Die Folge war eine
große Unsicherheit in der rechtlichen und nament-
lich in der strafrechtlichen Behandlung des Not-
standes, bis das B.G.B. zunächst für das deutsche
Zivilrecht dieser Unsicherheit und Verschwommen-
heit ein Ende machte und zugleich einen tiefgehen-
den Einfluß auf das Strafrecht ausübte.
Notstand ist ein Zustand gegenwärtiger Gefahr
für rechtlich geschützte Interessen, aus denen es