Full text: Staatslexikon. Dritter Band: Kaperei bis Paßwesen. (3)

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Der Notwehr gleichgeachtet ist die Nothilfe, 
d. h. die zur Verteidigung eines andern aus- 
geübte Notwehrhandlung. Auch bei ihr müssen 
sämtliche wesentliche Merkmale der Notwehr vor- 
handen sein, um dem Täter Straflosigkeit zu 
sichern; dann aber ist sie im selben Umfang ge- 
stattet wie die Notwehr. 
Die oben erörterten wesentlichen Merkmale der 
Notwehr finden sich in der wörtlich übereinstim- 
menden Begriffsbestimmung der Notwehr im 
deutschen St. G. B. (68 53) und im B. G. B. 
(*5227) wieder. Nach beiden ist „Notwehr die- 
jenige Verteidigung, die erforderlich ist, um einen 
gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff von sich oder 
einem andern abzuwenden“. Beide Gesetze sagen 
auch ganz entsprechend, das St.G.B.: „Eine 
strasbare Handlung ist nicht vorhanden, wenn die 
Handlung durch Notwehr geboten war“ (§ 53, 
Abs. 1), und das B.G.B.: „Eine durch Notwehr 
gebotene Handlung ist nicht widerrechtlich.“ Beide 
Gesetze erreichen damit das gleiche Ziel: den Täter 
in Notwehr von den nach den allgemeinen Be- 
stimmungen verwirkten Folgen seiner ihm aufge- 
zwungenen Handlungen zu befreien. Sie gewähren 
ihm auch beide in gleicher Weise Schutz bei Not- 
wehrüberschreitung: das St.G.B., indem es sie, 
falls sie in Bestürzung, Furcht oder Schrecken ge- 
schah, ganz allgemein für straflos erklärt (8 53, 
Abs. 3), das B.G.B., indem auf Grund seiner 
allgemeinen Bestimmungen über die Verpflichtung 
zum Schadensersatz der Handelnde in den gleichen 
Fällen und bei entschuldbarem Irrtum nicht zum 
Ersatz des angerichteten Schadens verpflichtet ist. 
— Eine alte Streitfrage des Strafrechts, ob es 
eine Notwehr gegen Tiere gebe, entscheidet das 
B.G. B. durch § 228 für das deutsche Recht end- 
gültig dahin, daß es gegenüber dem Angriff von 
Tieren nur Notstand, nicht aber Notwehr gibt. 
II. Notstand. Handelt es sich bei der Notwehr 
um die Behauptung des Rechts gegenüber dem 
Unrecht, so steht im Falle des Notstands dem zu 
behauptenden Recht gleichfalls Recht gegenüber. 
Notstand liegt vor, wenn eine dem eignen Rechts- 
gut drohende, nicht aus einem widerrechtlichen 
Angriffe entspringende Gefahr nur durch einen 
Eingriff in ein fremdes Rechtsgut abgewendet 
werden kann. Der im Notstand Handelnde 
greift also in äußerster Gefahr fremdes Gut an, 
verletzt die fremde Rechtssphäre; er tut, was zu 
unterlassen man billigerweise von ihm nicht ver- 
langen kann. Im Anschluß daran vertrat eine 
ältere, auf Kant und Feuerbach zurückführende 
Ansicht den Standpunkt, der durch den Notstand 
verursachte unwiderstehliche Zwang schließe die 
Zurechnungsfähigkeit aus. Sie ist heute mit Recht 
aufgegeben. Niemand verwirkt die eignen Rechts- 
güter und den Anspruch auf ihren Schutz, weil 
sich ein anderer in Gefahr und Bedrängnis be- 
findet. Dieser aber kann unter Hinweis auf seinen 
gefahrvollen Zustand Anspruch darauf erheben, 
daß ihm ein Ausweg daraus eröffnet werde, dessen 
  
Notwehr usw. 
  
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Beschreiten ihn nicht der Bestrafung aussetzt. Das 
Wesen des Notstands besteht eben in dem Wider- 
streit berechtigter Interessen, von denen jedes nur 
auf Kosten des andern erhalten werden kann. Die 
Notstandshandlung findet dementsprechend ihren 
letzten Grund in der Erwägung, daß es unwirt- 
schaftlich wäre, sollte ein großes, hochwertiges 
Rechtsgut nicht auf Kosten eines unverhältnis- 
mäßig kleinen und geringwertigen erhalten werden 
dürfen. Die Rechtsordnung gibt deshalb unter be- 
stimmten Voraussetzungen, regelmäßig bei Wah- 
rung eines überwiegenden Interesses, ausnahms- 
weise aber auch, wenn gleichwertige Rechtsgüter 
gegeneinander stehen, dem Bedrohten ein Notrecht, 
sein Rechtsgut durch Aufopferung eines fremden 
zu wahren. Der Notstand muß demnach unter die 
Umstände eingereiht werden, durch die die Rechts- 
widrigkeit der Handlung ausgeschlossen wird (be- 
stritten). 
Das römische Recht spricht an vielen Stellen 
vom Notstand (vgl. 1. 3, § 7 D. de incendio 
47, 9; I. 49 D. ad leg. Aquil. 9, 2; 1. 1 D. 
de leg. Rhod. 14, 2 u. a. m.), handelt aber 
stets nur über Einzelfälle und gelangt nirgends 
zu einer Festlegung des Notstandsbegriffs. — 
Die wichtigste Stelle des kanonischen Rechts Ne- 
cessitas legem non habet bezieht sich darauf, 
daß das Meßopfer nur in Fällen zwingender Not 
an andern als den zum Gottesdienst geweihten 
Orten gefeiert werden dürfe. Allgemeiner spricht 
sich c. 4, X de reg. iur. 5, 41 aus: Quod non 
est licitum lege, necessitas facit licitum; 
doch erscheint dieser Grundsatz, insoweit er auf 
dem Gebiet des Strafrechts in Betracht kommt, 
in einzelnen Anwendungsfällen nur als Grund 
für eine mildere Bestrafung. Aus dem kanonischen 
Recht schöpft die Peinliche Gerichtsordnung. Sie 
verweist in Art. 166 bezüglich dessen, der „durch 
rechte Hungersnot, die er, sein Weib oder seine 
Kinder leiden, etwas von essenden Dingen zu 
stehlen geursacht würde", auf den Rat der Rechts- 
verständigen (vgl. auch Art. 175). Das gemeine 
deutsche Recht hat trotz mancher Anläufe zu einer 
Verallgemeinerung des Begriffs die Frage ebenso- 
wenig vertieft wie die Gesetzgebungen am Aus- 
gang des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhun- 
derts. Die Lehrbücher und Abhandlungen beschäf- 
tigen sich wohl mit Untersuchungen über den wahren 
Grund der Straflosigkeit bei Notstandshandlungen, 
insbesondere des seelischen Zwanges, und mit 
wenig fruchtbaren Erörterungen darüber, welchen 
Gütern als den wichtigsten die geringeren im 
Widerstreit weichen müßten. Die Folge war eine 
große Unsicherheit in der rechtlichen und nament- 
lich in der strafrechtlichen Behandlung des Not- 
standes, bis das B.G.B. zunächst für das deutsche 
Zivilrecht dieser Unsicherheit und Verschwommen- 
heit ein Ende machte und zugleich einen tiefgehen- 
den Einfluß auf das Strafrecht ausübte. 
Notstand ist ein Zustand gegenwärtiger Gefahr 
für rechtlich geschützte Interessen, aus denen es
	        
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