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keine andere Rettung gibt als die Verletzung eines
andern (Liszt). Da die Notstandshandlung also,
wie oben näher dargelegt, ein Eingriff in ein
fremdes Recht ist, sind ihr bei weitem engere,
übrigens im deutschen Reichsrecht für das Straf-
recht und das Zivilrecht verschiedene Grenzen ge-
zogen. Gemeinschaftliche wesentliche Merkmale
des Notstands sind nur 1) eine gegenwärtige
Gefahr und 2) Rettung aus ihr durch Verletzung
fremder Rechtsgüter, und zwar unter Umständen,
die es dem Handelnden unmöglich machen, dem
Notstand auf andere Weise abzuhelfen.
Nach dem St.G.V. ist eine straflose Notstands-
handlung nur dann vorhanden, „wenn der Täter
durch unwiderstehliche Gewalt oder durch eind
Drohung, die mit einer gegenwärtigen, auf andere
Weise nicht abwendbaren Gefahr für Leib oder
Leben seiner selbst oder eines Angehörigen ver-
bunden war, zu der Handlung genötigt worden
ist" 6 52, Abs. 1). Das Gesetz beschränkt also
den Notstand auf eine gegenwärtige, auf andere
Weise nicht zu beseitigende Gefahr für Leib oder
Leben; es erkennt ihn nicht an, wenn der Angriff
sich gegen ein anderes Rechtsgut richtet, ganz anders
also als bei der Notwehr, allerdings eben aus der
richtigen Erwägung, daß sie gegen Unrecht, er
gegen Recht steht. Aus demselben Grunde gestattet
es Nothilfe auch nur zugunsten der nächsten An-
gehörigen. Auf die Größe der Gefahr dagegen
kommt es gar nicht an; die schärfsten Mittel
können zum Schutz gegen die geringste Gefahr
angewendet werden. Jedes Rechtsgut darf der im
Notstand Handelnde verletzen, gleichviel welcher
Art es ist, ohne sich strafbar zu machen. Eigne
Verschuldung des Notstands aber schließt das
Notrecht aus.
Neben dem im Notstand Handelnden, aber
ohne die für ihn geltenden Einschränkungen billigt
§ 52 St.G.B. dem Genötigten zu, daß seine
Handlung nicht rechtswidrig sei. Der Begriff er-
gibt sich aus dem Wortlaut des Gesetzes.
Teils enger teils weiter sind die Voraus-
setzungen des Notstands im B.G.B. Nach § 228
„handelt nicht widerrechtlich, wer eine fremde
Sache beschädigt oder zerstört, um eine durch sie
drohende Gefahr von sich oder einem andern ab-
zuwenden, wenn die Beschädigung oder die Zer-
störung zur Abwendung der Gefahr erforderlich
ist und der Schaden nicht außer Verhältnis zu
der Gefahr steht“. Eingeschränkt sind also die
Grenzen des Notstands nach bürgerlichem Recht
dem Strafrecht gegenüber insofern, als das B.G.B.
nur von der Beschädigung und Zerstörung von
Sachen spricht, nicht dagegen von der Verletzung
der Person. Wer sie verletzt, ist strafrechtlich straf-
los, zivilrechtlich aber handelt er rechtswidrig und
setzt sich damit Schadensersatzansprüchen aus. Er-
weitert sind dagegen die Grenzen des Notstands
im Zidvilrecht insofern, als § 228 B.G. B. nicht
eine Gefahr für Leib oder Leben, sondern nur
irgend eine durch die Sache drohende Gefahr ver-
Notwehr ufw.
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langt und dabei nicht nur die einem Angehörigen,
sondern die jedem beliebigen „andern" drohende
Gefahr berücksichtigt. Im Einklang mit dem
St.G.B. dagegen verpflichtet das B.G.B. den
Handelnden, der die Gefahr selbst verschuldet hat,
zum Schadensersatz.
Der gleiche Grundsatz wie in § 228 B.G. B.
kehrt wieder in § 706 H.G.B. bei der großen
Haverei, insofern als der Schiffer im Falle der
Not Teile der Ladung und des Schiffes selbst über
Bord werfen darf, und im § 82, Abs. 2 der See-
mannsordnung (R.G.Bl. S. 175 ff), wonach der
Schiffer befugt ist, die von den Schiffsleuten heim-
lich auf das Schiff gebrachten Waren über Bord
zu werfen, wenn sie das Schiff oder die Ladung
gefährden.
Die im § 228 behandelte Gefahr droht von
einer fremden Sache, und die Abwehr erfolgt durch
Eingriff in sie. Im Gegensatz dazu regelt § 904
B.G.B. die Fälle, in denen der Eingriff in das
fremde Rechtsgut nicht zur Verteidigung gegen
eine gerade von ihm drohende Gefahr, sondern
zur Rettung aus einer anderweit entstandenen
Noklage erfolgt. Der Eingriff ist hier nur dann
erlaubt, wenn er „zur Abwendung einer gegen-
wärtigen Gefahr notwendig“ und zugleich „der
drohende Schaden gegenüber dem aus der Ein-
wirkung dem Eigentümer entstehenden Schaden
unverhältnismäßig groß ist“. Sind beide Vor-
aussetzungen aber gewahrt, dann darf der im Not-
stand Handelnde den Widerstand des Eigentümers
wenn nötig mit Gewalt brechen; ein Notwehr-
recht gegen ihn steht dem Eigentümer nicht zu.
Auch die Nothilfe ist hier unbeschränkt gestattet.
Den von ihm angerichteten Schaden aber muß
der in diesem Notstand Handelnde nach § 904
stets und nicht nur dann, wenn er seine Notlage
selbst verschuldet hat, ersetzen. Das deutsch-recht-
liche „Veranlassungsprinzip“ hat hier also über
das römisch-rechtliche „Verschuldungsprinzip“ ge-
siegt. — Der staatsrechtliche Begriff des unge-
wöhnlichen Notstands und der dessen Abhilfe be-
zweckenden Notstandsverordnungen hat eine ganz
andere Bedeutung und gehört nicht hierher.
Der extreme Sozialismus beruft sich auf den
Massennotstand der besitzlosen Klassen gegenüber
den Besitzenden, um hieraus das Recht des Pro-
letariats herzuleiten, die bestehende Gesellschafts-
ordnung umzustürzen. Diese „Notstandstheorie“
ist ebenso widersinnig wie die Entschuldigung der
Blutrache und der Lynchjustiz durch den Hinweis
auf den Notstand der Bevölkerung rohen Übel-
tätern gegenüber, „weil der Arm der staatlichen
Justiz zu langsam und unsicher zugreife"“.
Auch zur Rechtfertigung des Zweikampfs hat
man sich auf den Notstand und auf den unwider-
stehlichen Zwang berufen und ihn vermöge des
Widerstreits zwischen dem unantastbaren Gute
der Ehre, mit welchem verglichen selbst das Leben
minderwertig sei, und dem unzulänglichen Schutz
der Ehre durch die Gesetzgebung unter völliger