Full text: Staatslexikon. Dritter Band: Kaperei bis Paßwesen. (3)

1397 
keine andere Rettung gibt als die Verletzung eines 
andern (Liszt). Da die Notstandshandlung also, 
wie oben näher dargelegt, ein Eingriff in ein 
fremdes Recht ist, sind ihr bei weitem engere, 
übrigens im deutschen Reichsrecht für das Straf- 
recht und das Zivilrecht verschiedene Grenzen ge- 
zogen. Gemeinschaftliche wesentliche Merkmale 
des Notstands sind nur 1) eine gegenwärtige 
Gefahr und 2) Rettung aus ihr durch Verletzung 
fremder Rechtsgüter, und zwar unter Umständen, 
die es dem Handelnden unmöglich machen, dem 
Notstand auf andere Weise abzuhelfen. 
Nach dem St.G.V. ist eine straflose Notstands- 
handlung nur dann vorhanden, „wenn der Täter 
durch unwiderstehliche Gewalt oder durch eind 
Drohung, die mit einer gegenwärtigen, auf andere 
Weise nicht abwendbaren Gefahr für Leib oder 
Leben seiner selbst oder eines Angehörigen ver- 
bunden war, zu der Handlung genötigt worden 
ist" 6 52, Abs. 1). Das Gesetz beschränkt also 
den Notstand auf eine gegenwärtige, auf andere 
Weise nicht zu beseitigende Gefahr für Leib oder 
Leben; es erkennt ihn nicht an, wenn der Angriff 
sich gegen ein anderes Rechtsgut richtet, ganz anders 
also als bei der Notwehr, allerdings eben aus der 
richtigen Erwägung, daß sie gegen Unrecht, er 
gegen Recht steht. Aus demselben Grunde gestattet 
es Nothilfe auch nur zugunsten der nächsten An- 
gehörigen. Auf die Größe der Gefahr dagegen 
kommt es gar nicht an; die schärfsten Mittel 
können zum Schutz gegen die geringste Gefahr 
angewendet werden. Jedes Rechtsgut darf der im 
Notstand Handelnde verletzen, gleichviel welcher 
Art es ist, ohne sich strafbar zu machen. Eigne 
Verschuldung des Notstands aber schließt das 
Notrecht aus. 
Neben dem im Notstand Handelnden, aber 
ohne die für ihn geltenden Einschränkungen billigt 
§ 52 St.G.B. dem Genötigten zu, daß seine 
Handlung nicht rechtswidrig sei. Der Begriff er- 
gibt sich aus dem Wortlaut des Gesetzes. 
Teils enger teils weiter sind die Voraus- 
setzungen des Notstands im B.G.B. Nach § 228 
„handelt nicht widerrechtlich, wer eine fremde 
Sache beschädigt oder zerstört, um eine durch sie 
drohende Gefahr von sich oder einem andern ab- 
zuwenden, wenn die Beschädigung oder die Zer- 
störung zur Abwendung der Gefahr erforderlich 
ist und der Schaden nicht außer Verhältnis zu 
der Gefahr steht“. Eingeschränkt sind also die 
Grenzen des Notstands nach bürgerlichem Recht 
dem Strafrecht gegenüber insofern, als das B.G.B. 
nur von der Beschädigung und Zerstörung von 
Sachen spricht, nicht dagegen von der Verletzung 
der Person. Wer sie verletzt, ist strafrechtlich straf- 
los, zivilrechtlich aber handelt er rechtswidrig und 
setzt sich damit Schadensersatzansprüchen aus. Er- 
weitert sind dagegen die Grenzen des Notstands 
im Zidvilrecht insofern, als § 228 B.G. B. nicht 
eine Gefahr für Leib oder Leben, sondern nur 
irgend eine durch die Sache drohende Gefahr ver- 
Notwehr ufw. 
  
1398 
langt und dabei nicht nur die einem Angehörigen, 
sondern die jedem beliebigen „andern" drohende 
Gefahr berücksichtigt. Im Einklang mit dem 
St.G.B. dagegen verpflichtet das B.G.B. den 
Handelnden, der die Gefahr selbst verschuldet hat, 
zum Schadensersatz. 
Der gleiche Grundsatz wie in § 228 B.G. B. 
kehrt wieder in § 706 H.G.B. bei der großen 
Haverei, insofern als der Schiffer im Falle der 
Not Teile der Ladung und des Schiffes selbst über 
Bord werfen darf, und im § 82, Abs. 2 der See- 
mannsordnung (R.G.Bl. S. 175 ff), wonach der 
Schiffer befugt ist, die von den Schiffsleuten heim- 
lich auf das Schiff gebrachten Waren über Bord 
zu werfen, wenn sie das Schiff oder die Ladung 
gefährden. 
Die im § 228 behandelte Gefahr droht von 
einer fremden Sache, und die Abwehr erfolgt durch 
Eingriff in sie. Im Gegensatz dazu regelt § 904 
B.G.B. die Fälle, in denen der Eingriff in das 
fremde Rechtsgut nicht zur Verteidigung gegen 
eine gerade von ihm drohende Gefahr, sondern 
zur Rettung aus einer anderweit entstandenen 
Noklage erfolgt. Der Eingriff ist hier nur dann 
erlaubt, wenn er „zur Abwendung einer gegen- 
wärtigen Gefahr notwendig“ und zugleich „der 
drohende Schaden gegenüber dem aus der Ein- 
wirkung dem Eigentümer entstehenden Schaden 
unverhältnismäßig groß ist“. Sind beide Vor- 
aussetzungen aber gewahrt, dann darf der im Not- 
stand Handelnde den Widerstand des Eigentümers 
wenn nötig mit Gewalt brechen; ein Notwehr- 
recht gegen ihn steht dem Eigentümer nicht zu. 
Auch die Nothilfe ist hier unbeschränkt gestattet. 
Den von ihm angerichteten Schaden aber muß 
der in diesem Notstand Handelnde nach § 904 
stets und nicht nur dann, wenn er seine Notlage 
selbst verschuldet hat, ersetzen. Das deutsch-recht- 
liche „Veranlassungsprinzip“ hat hier also über 
das römisch-rechtliche „Verschuldungsprinzip“ ge- 
siegt. — Der staatsrechtliche Begriff des unge- 
wöhnlichen Notstands und der dessen Abhilfe be- 
zweckenden Notstandsverordnungen hat eine ganz 
andere Bedeutung und gehört nicht hierher. 
Der extreme Sozialismus beruft sich auf den 
Massennotstand der besitzlosen Klassen gegenüber 
den Besitzenden, um hieraus das Recht des Pro- 
letariats herzuleiten, die bestehende Gesellschafts- 
ordnung umzustürzen. Diese „Notstandstheorie“ 
ist ebenso widersinnig wie die Entschuldigung der 
Blutrache und der Lynchjustiz durch den Hinweis 
auf den Notstand der Bevölkerung rohen Übel- 
tätern gegenüber, „weil der Arm der staatlichen 
Justiz zu langsam und unsicher zugreife"“. 
Auch zur Rechtfertigung des Zweikampfs hat 
man sich auf den Notstand und auf den unwider- 
stehlichen Zwang berufen und ihn vermöge des 
Widerstreits zwischen dem unantastbaren Gute 
der Ehre, mit welchem verglichen selbst das Leben 
minderwertig sei, und dem unzulänglichen Schutz 
der Ehre durch die Gesetzgebung unter völliger
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.