1405
II. Die sog. Auntiaturenstreitigkeiten.
Es ist bereits hervorgehoben worden, daß die
Nuntiaturen, welche im Gebiet des deutschen
Reichs (bis zur Zerstörung der Reichskirche in
der Revolutionszeit) bestanden, nicht bloß diplo-
matische Vertretungen waren, sondern auf Grund
ihrer Fakultäten auch kirchliche Jurisdiktion übten
und als Appellationstribunale fungierten. Diese
Nuntiaturengerichtsbarkeit war mit dem geltenden
Kirchenrecht (Conc. Trid. sess. XXII, e.
decr. de ref.) vollkommen im Einklang; sie
genoß auch den Schutz der Reichsgesetzgebung,
welche die Kompetenz der Nuntien in geistlichen
Streitsachen wiederholt anerkannt hatte. Die Be-
schwerden, welche von den Reichsgerichten und den
Reichsständen gegen die Nuntiaturen erhoben wur-
den, wollten den Nuntien dieses Gebiet ihrer recht-
mäßigen Gerichtsbarkeit nicht entzogen wissen,
sondern verlangten bloß, daß ihnen alle Eingriffe
in die Jurisdiktion der Reichsgerichte und in deren
Kompetenz bei weltlichen Streitsachen verwehrt
werden sollten. Diese Gravamina kehrten be-
ständig wieder, weil die Nuntien das Prinzip
nicht aufgeben wollten, daß jeder von den Offi-
zialaten der geistlichen Landesherrn in erster
Instanz entschiedene Rechtsstreit, ohne Rücksicht
auf die Natur der Streitsache, vi prorogationis
auch in höherer Instanz zur Kompetenz des kirch-
lichen Forums gehöre, trotzdem der jüngste Reichs-
abschied von 1654 (§ 164) und die Wahlkapitu-
lationen (seit jener Ferdinands IV. von 1654)
diese „Konfusion der Jurisdiktionen“ verpönt und
das Einschreiten des Kaisers beim päpstlichen
Stuhl in Aussicht gestellt hatten. Die perma-
nenten Jurisdiktionskonflikte wie das leidenschaft-
liche, unkluge Auftreten einzelner Nuntien in An-
gelegenheiten des Reichs entzogen wohl dem In-
stitut mehr und mehr die Sympathien; indessen
wurde die Rechtmäßigkeit der Jurisdiktion der
Nuntien in geistlichen Sachen bis zur febroniani-
schen Epoche von keiner Seite in Frage gestellt.
Hierüber bestand bei Kanonisten und Publizisten
ohne Unterschied des Bekenntnisses keinerlei Mei-
nungsverschiedenheit. (Vgl. von protestantischen
Autoren: J. H. Böhmer, us. eccles. protest.
lib. L, tit. XXVIII, § 6; auch I. J. Moser,
Von der teutschen Religionsverfassung (1774)
723, 725 f, schreibt dem Papst „das an sich
unstreitige Recht“ zu, „in Teutschland . Ge-
richtsstühle unter dem Namen derer Nuntiaturen
zu halten“, an welche „in geistlichen Sachen die
Appellationes von denen .. geistlichen Ge-
richten des zu jeder Nuntiatur gehörigen Distrikts
ergehen“.)
Ein Rechtsstreit des Domdechanten (und spä-
teren Bischofs) Grafen Limburg-Styrum mit
dem Domkapitel zu Speyer gab bei der Wahl
Josephs II. (1764) Anlaß zur wiederholten Er-
örterung der Beschwerden über die Appellationen
nach Rom und die Nuntiaturengerichtsbarkeit.
Hatte schon bei diesen resultatlosen Verhandlungen
—
Nuntien ufsw.
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der Kurfürst von der Pfalz den Antrag gestellt,
den Papst zu verpflichten, Appellationen in geist-
lichen Streitsachen der deutschen Kirche nur in
Deutschland selbst „durch deutsche Kommissarien
binnen der Grenzen der betreffenden „Erzdiözese"
verhandeln und entscheiden zu lassen — ein Versuch,
dem geltenden Recht und den vom Trienter Kon-
zil anerkannten päpstlichen Prärogativen gegen-
über mit Febronius (a. a. O. c. 5, 810) die Geltung
der Baseler Beschlüsse und der sog. deutschen
Fürstenkonkordate zu behaupten —, so trat der
Einfluß der Lehren des Febronius noch viel ent-
schiedener zutage, als die drei geistlichen Kur-
fürsten im Jahre 1769 zu Koblenz eine Konferenz
ihrer Bevollmächtigten (unter dem Vorsitz Hont-
heims) abhalten ließen, welche am 13. Dez.
1769 mit der Redaktion der 31 Joseph II. über-
reichten Desideria et respective Gravamina
ihren Abschluß fand. Hier wurde zuerst ausdrück-
lich die Beseitigung aller Nuntiaturengerichts-
barkeit im deutschen Reich verlangt (Desid.
29, 3 bei Le Bret, Magazin der Staaten= und
Kirchengeschichte VIII 19) im Einklang mit
dem Programm des Febronius, welcher auf das
Vorbild der gallikanischen Kirche verwiesen hatte,
wo den Nuntien nicht die geringste Jurisdiktion
verstattet werde (a. a. O. c. 2, 8 10. Der Einfluß
der Doktrinen und der Agitation Hontheims ist
hier geradezu entscheidend gewesen; noch im Jahre
1756 bzw. 1757 hatten Köln und Trier öffent-
lich und offiziell durch ihre Geschäftsträger an der
Kurie die Erklärung abgeben lassen, daß sie die
Freiheit des Appellationszuges an die Kölner
Nuntiatur nicht im geringsten beeinträchtigen
wollten. Vgl. [Aq. Jul. Cäsar,] Geschichte der
Nuntiat. Deutschlands (1790 52; Pü VI. Re-
sponsio, ed.cit. S. 472). Die Koblenzer Konferenz
verlief im Sande; Joseph II. verwies die Erzbi-
schöfe mit ihren Beschwerden einfach an den Papst.
Als aber im Jahre 1785 Pius VI. auf die
Bitte des Kurfürsten Karl Theodor von der Pfalz
und von Bayern in München eine neue Nun-
tiatur errichtete, welche die gleichen Vollmachten
wie die Kölner erhielt, ließ der Kaiser der Oppo-
sition der deutschen Metropoliten gegen die neue
Nuntiatur seine entschiedenste Unterstützung zu
teil werden. Die neue Nuntiatur trat jedoch unter
dem Schutz Karl Theodors ungeachtet des Wider-
stands der Erzbischöfe in Wirksamkeit; der Kur-
fürst hatte die Errichtung der Nunliatur verlangt,
nachdem es ihm, ebenso wie sfrüheren Regenten
des Landes, nicht geglückt war, dasselbe von der
Jurisdiktion seiner auswärtigen Ordinarien zu
befreien, und letztere ihm sogar die Einsetzung be-
sonderer Kommissariate für das kurfürstliche Gebiet
ihrer Diözesen verweigert hatten. Die Anwesen-
heit eines päpstlichen Nuntius zu München sollte
ebensowohl den Glanz des kurfürstlichen Hofes er-
höhen, wie die umfassenden Vollmachten des Nun-
tius und dessen Jurisdiktion eine Gewähr gegen
die Ubergriffe der auswärtigen Ordinarien boten.