Full text: Staatslexikon. Dritter Band: Kaperei bis Paßwesen. (3)

1417 
prozeß eröffnet, eine gegen die gesamte politische 
Tätigkeit O'Connells seit 1829 gerichtete Anklage, 
die alle Loyalität, allen für strenge Gesetzlichkeit 
bewiesenen Sinn vergessend, aus gelegentlich im 
Übereifer der Volksrede gefallenen Außerungen den 
Hochverrat herleitete. Am 15. Jan. 1844 begann 
der „Riesenprozeß", am 5. Febr. verteidigte sich 
O'Connell als Mann von Ehre und Charakter; 
am 12. Febr. sprach die Jury, aus der die Katho- 
liken entfernt waren, ihn „schuldig"“. Die Be- 
rufung wurde am 24. Mai verworfen und O'Con- 
nell zu einem Jahr Gefängnis und 2000 Pfund 
Geldbuße verurteilt. Der Appell an das Ober- 
haus hinderte nicht, daß O'Connell die Strafe 
sofort antreten mußte. Am 5. Sept. kassierte das 
Oberhaus das Urteil; triumphierend verließ der 
jetzt 69jährige Greis leidend das Gefängnis. 
Düstere Ahnungen für die Zukunft Irlands ver- 
ließen ihn bei zunehmender körperlicher Gebrechlich- 
keit nicht mehr. Die Einsicht in die Fehler seiner 
von zu großem Loyalismus getragenen Politik, 
die Vorurteile und die Ausbeutung dieser Fehler 
durch die kalt berechnende englische Rassenpolitik, 
der Niedergang seines Volks in der Erschöpfung 
seiner materiellen und moralischen Hilfskräfte ver- 
bitterten maßlos die letzten Anstrengungen O'Con- 
nells zugunsten seines Volks. Die Parlaments- 
session des Jahres 1845/46 steigerte sein Leid. 
Er hatte daheim wie in London den Gedanken 
einer Föderation zwischen Großbritannien und 
Irland verfochten; die Geheimgesellschaft „Jung- 
Irland“ benutzte dies zur Spaltung der ihm noch 
anhängenden Repealer. Die grausige Hungersnot 
des Jahres 1846/47 brach ihm das Herz. Am 
8. Febr. beschwor er das Parlament, die Iren zu 
retten, von denen ein Viertel dem Hungertod ent- 
gegensah. Es war vergebens. Zwei Tage später 
ergriff ihn die Todeskrankheit. Ein Aufenthalt in 
Hastings, dann die Reise nach dem Süden brachten 
keine Linderung. Er kam über Boulogne, Paris, 
LVon, wo ihn die Katholiken ehrfurchtsvoll be- 
grüßten, bis nach Genua, wo ihm der 88jährige 
Erzbischof in der Nacht die heiligen Sterbesakra- 
mente reichte. Dort starb er am 15. Mai 1847. 
Seinletztes Vermächtnis lautete: „Mein Leib nach 
Irland, mein Herz nach Rom, meine Seele zu 
Gott.“ Sterbend stellte er sein armes Irland 
unter Gottes und der seligsten Jungfrau Schutz. 
In Rom, wo sein Herz in St Agatha beigesetzt 
wurde, bereitete Pius IX. „dem Helden des Ka- 
tholizismus“, wie er ihn nannte, eine königliche 
Trauerfeier. In Irland trauerte die ganze Nation; 
zwei Erzbischöfe und zehn Bischöfe geleiteten die 
Leiche zu Grabe; seit 14. Mai 1869 ruht er zu 
Glasnevin inmitten des großen Friedhofs von 
Dublin, in der Krypta zu Füßen des ragenden 
runden Turms, der nach irischer Sitte dem „un- 
gekrönten König von Irland“ errichtet wurde. 
Sein Ruhm lebt fort, sein Name bleibt der 
Kampfruf des katholischen Irland gegen das re- 
volutionäre „Jung-Irland“. Am 5. und 6. Aug. 
O'Connell. 
  
1418 
1875 begingen die katholischen Iren der ganzen 
Welt in Dublin die unvergleichliche Jahrhundert- 
feier von O'Connells Geburt in Anwesenheit von 
33 Erzbischöfen und Bischöfen, umgeben von den 
bischen Notabilitäten der ganzen angelsächsischen 
elt. 
Je seltener Erscheinungen so gewaltiger Art wie 
die O'Connells in der Weltgeschichte sind, desto 
schwieriger bleibt ihre rechte Würdigung. So 
wenig es an Bewunderung der Emanzipations- 
politik O'Connells der ersten Periode seines Wir- 
kens (bis 1829) fehlt, so wenig an Kritik der 
späteren Repealpolitik. Ersteres erklärt sich aus den 
heute noch steigenden Erfolgen und ihrer für den 
weltweiten Bereich der britischen See= und Kolo- 
ialmachtunberechenbaren öffentlich-rechtlichen Be- 
deutung, letzteres aus dem nicht endenden, wahr- 
haft tragischen Mißgeschick der Irenpolitik. Ist 
Ol'Connell dafür verantwortlich? Alsbald nach 
seinem Tod gewann das radikale Element mit 
seiner unseligen Republik= und Revolutionsspielerei 
die Oberhand, welches O'Connell mit beispiel- 
loser Obmacht, selbst noch in der entsetzlichen 
Krise von 1846/47, niedergehalten. Ist er verant- 
wortlich für die Aufstandsversuche von 1848, für 
die schleichende Epidemie irischer Geheimbündelei 
(Fenier usw.) und ihre Gewalttaten, für die Ex- 
zesse des radikalen Nationalismus (Parnell), für 
die Mißerfolge der Landliga (1879), das Home- 
Rule (seit 1870), das dreimalige Scheitern der 
Gladstoneschen Annäherungsversuche (1870, 1882, 
1893)7 Ist es O'Connells Schuld, wenn selbst 
die offenkundigen Besserungen der Lage durch das 
irische Landgesetz und die Reglung der Rechts- 
verhältnisse (1896), der lokalen Selbstverwaltung 
(1898), der neuen Landakte (1903 durch Staats- 
zuschüsse usw.) keine Wendung herbeizuführen ver- 
mochten? Sind es lediglich O'Connellsche Fehler, 
wenn man der Irenpolitik mit mehr oder weniger 
Recht Mangel an Selbstzucht und Zurückhaltung, 
an wirtschaftlich-sozialer Selbstorganisation, an 
Überschätzung der irischen Volkskraft, an Unter- 
schätzung des unionistischen Staatsgedankens, der 
Rassengegensätze vorwirft? Die tiefsten Ursachen 
des Irenelends, die säkulare agrarische Rechtlosig- 
keit, die vollendete Aussperrung von allen Vor- 
teilen der englischen Handels= und Kolonialpolitik, 
die rücksichtsloseste Ausbeutung aller Hilfsquellen 
des Landes, die systematische Fernhaltung von aller 
kulturellen Erhebung, das Elend der Verarmung, 
der Sprachunterdrückung, der rapiden Volks- 
abnahme, der Auswanderung haben in dem hoch- 
begabten Irenvolk einen Zustand verzweifelter 
Abwehr einwurzeln lassen, den nur die Zeit und 
jene fortschreitende wirtschaftlich-kulturelle Hebung 
des Volks beseitigen kann, welche dem Charakter, 
der historischen Vergangenheit und den berechtigten 
Ansprüchen des Volks gerecht wird. O'Connells 
politische Fehler, auch hierin ein Kind seines 
Volks, wollen aus diesem Gesichtspunkt beur- 
teilt sein. 
 
	        
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