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als solchen gewählt habe, und keine Macht, auch
nicht der Papst, habe ein Recht, sich in die deutsche
Königswahl zu mischen. Ja das nationale Ele-
ment machte sich sogar in der Kirche, nicht zum
Nutzen der Autorität der allgemeinen Kirche, gel-
tend. Nationale Bestrebungen wurden gefördert
durch das sog. avignonensische Exil (1305/76),
sofern eine Abhängigkeit des berufsmäßig univer-
salen Papsttums von der französischen Krone
wenigstens geglaubt wurde. Als dann Schlim-
meres die Kirche traf und das große Schisma
(1378—1417—1448 die Kirche in ihren Grund-
festen, in dem Primate, erbeben, aber dank ihrer
göttlichen Stiftung nicht stürzen machte, schieden
sich die Obedienzen der einzelnen Päpste und
Gegenpäpste nicht nach Diözesen und Kirchen-
provinzen, sondern nach Nationen. So ist es
kein Wunder, daß auf der Reformsynode von
Konstanz (1414/18) die Abstimmung in völlig
von der früheren Art abweichender Weise nach
Nationen geschah und Papst Martin V. mit den
einzelnen Nationen verhandelte und mit jeder be-
sonders ein Konkordat abschloß.
X. Die angedeutete nationale Strömung war
schon der Vorbote einer neuen Zeit; sie war aber
nicht imstande, der mittelalterlichen Weltanschau-
ung ein jähes Ende zu bereiten. Erst der Hu-
manismus des 15. Jahrh. leitete eine neue
Periode auch in der Auffassung des Verhältnisses
von Kirche und Staat ein. Der Humanismus
stellte das Menschliche und Natürliche in den
Vordergrund, drängte, allerdings nicht überall
mit gleicher Schärfe, das Göttliche und Über-
natürliche zurück. Die erwachende Kritik über-
schätzte ihre Kräfte, und weil manche der gläubig
hingenommenen Traditionen der Vorzeit sich als
falsch erwiesen, wurde der ganze Glaube der ver-
gangenen Geschlechter weit in den Schatten ge-
rückt gegenüber dem Wissen der Gegenwart. Die
religiöse, die kirchliche Betrachtung wurde von der
politischen abgelöst.
Juristisch genommen, erreichte das Mittelalter
sein Ende mit der reichsgesetzlichen Anerkennung
der lutherischen oder Augsburger Konfession im
Religionsfrieden zu Passau (1552) und zu Augs-
burg (1555). Es war dem Kaiser und dem Reichs-
regiment nicht mehr möglich gewesen, das auf dem
mittelalterlichen Ketzerrechte fußende Wormser
Edikt vom Mai 1521, welches infolge der päpst-
lichen Exkommunikation über Luther und dessen
Anhänger die Reichsacht verhängte, zu exequieren.
Das alte Kaisertum hatte den Beruf, die katho-
lische Religion und Kirche in allweg zu schirmen,
fallen gelassen, und es begreift sich demnach leicht,
daß Innozenz X. 1648 gegen die der Kirche und
dem Verhältnisse der Kirche zum Reich abträglichen
Bestimmungen des Westfälischen Friedens, durch
welche auch die Reformierten als den Lutheranern
gleichberechtigt erklärt wurden, protestierte. Vgl.
Rich. Müller, Die rechtlichen Wandlungen der
advocatia eccles. des röm. Kaisers deutscher
Kirche und Staat.
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Nation (1895); Glier, Die advocatia ecclesiae
romanae 1519/1648 (1897).
XI. Der Gallikanismus (ogl. d. Art.)
wurzelte keineswegs nur in dem Machtwort der
Krone; er wurde vielmehr getragen von der über-
wiegenden Mehrheit des Klerus und mit großer
Energie von der Sorbonne und von den Parla-
menten (Gerichtshöfen) gegen jede Anfechtung ver-
teidigt. Er ist eine eigentümliche Mischung kirch-
lichen Freiheitsgefühles und staatlichen Absolutis-
mus; er krankte an der widersinnigen Abneigung
gegen eine starke päpstliche Macht und trug kein
Bedenken, den staatlichen Geboten in kirchlichen
Dingen eine dem Papste verweigerte Unterwürfig-
keit zu bezeigen. Von den vier Artikeln der De-
klaration des französischen Klerus von 1682 ge-
hören zwei hierher: der dritte, welcher die Rechts-
beständigkeit der gallikanischen kirchlichen und
staatlichen Gesetze und Ubungen gegen päpstliche
Eingriffe wahrt, und der erste, welcher dem Papste
jede, auch indirekte Gewalt in staatlichen Ange-
legenheiten abspricht. Der Gallikanismus wurde
wiederholt von den Päpsten verworfen; trotzdem
erhielt sich derselbe zähe und fand noch in den
organischen Artikeln von 1802 eine Heimstätte.
In der öffentlichen Meinung und vor allem im
französischen Klerus verlor derselbe aber im Laufe
des 19. Jahrh. alle Autorität. Vgl. Edmund Richer
gest. 1631), Tractatus de ecclesiastica et
politica potestate (Paris 1611); Defensio
libelli de eccl. et pol. pot. (Köln 1701); dazu
Laromiguiere-Lafon, Etude critique du traité
de eccl. et pol. pot. d’Edm. Richer (Straß-
burg 1863), und Puyol, Edmond Richer (2 Bde,
Paris 1876); Petr. de Marca (gest. 1662), De
concordia sacerdotii et imperil cum obser-
vationibus Boehmer (Venedig 1770); dazu
Analecta luris Pontificii XIII (1874) 261 bis
310; Mention, Documents relatifs au rap-
port du clergé 1682/1705 (Paris 1893); de
Crousaz-Cretel, L'église et I’état au XVIII-
siecle (Paris 1893).
XII. Der Febronianismus (ogl. d. Art.)
ist das ungeratene Kind des Gallikanismus; er
vereinigte und verschärfte die Schattenseiten des-
selben, ohne sie durch die den gallikanischen Ge-
lehrten eigene Begeisterung für selbständige kirchen-
geschichtliche Studien einigermaßen zu mildern.
Er entbehrt der nationalen Idee, ist rationalistisch
und servil gegenüber den Regierungen. Diese
werden geradezu aufgefordert, die vom System
namhaft gemachten Reformen und Anderungen
im Kirchenwesen dann eigenmächtig, auch gegen
den Willen des Papstes, vorzunehmen, wenn die
Bischöfe sich nicht der Bewegung anschließen
sollten. So geistlos die literarischen Produkte
dieser Richtung sind, so ist die praktische Durch-
führung dieses Systems, wie sie vorzüglich in
Toskana und in Osterreich gehandhabt wurde (sog.
Josephinismus, val. d. Art.) nichts als eine
angeblich kirchenrechtlich begründete Anwendung
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