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Es darf nicht auffallen, wenn demgemäß die Be-
urteilung des Charakters eine schwankende ist.
Die hergebrachten Bezeichnungen „Agitator“,
„Demagoge“, „Volkstribun“ sind, abgesehen von
dem heutigen Beigeschmack dieser Worte, dem
liberalen politischen Jargon entlehnt, einseitig; sie
übersehen in O'Connell den Christen, den Kelten,
den klugen, berechnenden Staatsmann. Besser
charakterisierte ihn Gladstone als den großen
„Ethnogogen“, den Vorkämpfer und Führer seines
Volks. Richtiger, aber nur an Irland erinnernd,
war der Zuruf: „Liberator!“ Er hat, wie Mon-
talembert sagte, ohne einen Blutstropfen zu ver-
gießen, ein ganzes Volk neu geschaffen, für sechs
Millionen Katholiken die politischen Rechte wieder-
erobert. In dem „Helden des Katholizismus“
sieht P. Ventura den „großen Vertreter der
Kämpfe der Kirche der Jetztzeit auf dem Boden
des gemeinen Rechts und seiner Freiheiten“. Was
ihm aber seine einzige Stelle gibt, ist die einheit-
liche Verkörperung der hohen politischen, natio-
nalen, christlichen Interessen Irlands in einer
selten begabten, genialen Persönlichkeit und in der
harmonischen Einheit ihres Wesens und Wirkens.
Er war in Wahrheit der Vertreter eines
ganzen Volks, eines ganzen Landes,
das, ungebeugt durch tausendjährige tragische
Schicksale, in ihm den Repräsentanten einer besseren
Zukunft erkannte und mit altkeltischem Ungestüm
liebte, trotz seiner Schwächen und Fehler. So er-
klärt es sich, daß er nie in das enge moderne
politische Parteiwesen sich finden, nie nach der
Schnur der modernen Parlamentsrede sprechen,
nie über Kirchenpolitik anders als nach den alt-
irischen Traditionen urteilen lernte. Dabei war
und blieb er stets ein überlegener, scharfsichtiger
politischer Denker und Rechner, der unbestritten
größte Redner des englischen Parlaments und des
irischen Bolks, der treueste Sohn seiner Kirche und
ihres Oberhaupts. Die ihm um seiner Gering-
schätzung des modern-politischen Parteiwesens
willen Ehrgeiz und Herrschsucht, um seiner natur-
wüchsigen, oft derben und leidenschaftlichen Volks-
rede willen bäurischen, rohen Sinn, Mangel an
klassischer Schulung, um seines schnellen, im Veto-
streit oft harten und verletzenden Urteils gegen
Rom und die Bischöfe willen Mangel an kirch-
lichem Sinn vorwerfen, gewisse Schwächen gegen
seine Söhne, Schwiegersöhne und nächsten Freunde
als harten Eigennutz ausgeben, werden ihm wenig
gerecht.
In gleicher Weise will die vielgerühmte Rede-
gewalt O'Connells gewürdigt sein, die ihn zum
Abgott seines Volks machte. O'Connell war ein
geborner Volksredner; mit imponierender Gestalt,
heller und scharfer, auch die Lebhaftigkeiten und
Unruhen einer Massenversammlung meisternder
Stimme, ausdruckvollstem Mienen= und Gesten-
spiel verband sich bei ihm der echt irische Humor,
nie versagender, schlagfertiger Witz, selten plasti-
scher Bilder= und Wortreichtum, pathetische Be-
O'Connell.
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geisterung und eine Kraft der Ausnutzung der
Blößen seiner Gegner, die ihn bis zur Nachahmung
ihrer Schwächen in Ton, Ausdruck und Haltung
unter schallendem Gelächter seiner Zuhörer hin-
reißen konnte. Selbst seine Freunde beklagten,
daß er oft sich bis zum herausfordernden Trotz in
keltischem Ungestüm hinreißen ließ und dabei die
Feindseligkeiten der Tories und die Gleichgültig-
keit der Wighs, die Worte und Haltung eines Peel,
Grey, Brougham u. a. in einer Weise geißelte,
die seiner Sache schaden mußte. Von seinen Reden
haben wir nur die nachgeschriebenen und später
gesammelten Improvisationen. Er warkein Schrift-
steller; wir haben von ihm nur den Anfang einer
wenig beachteten Memoir of Ireland, Native
and Saxon (Dublin 1843). Aber in seinen
„offenen Briefen“ an das irische Volk finden sich
Proben volkstümlicher theologischer wie politischer
Belehrungen, die geradezu meisterhaft sind. —
Als Mensch war O“'Connell die personifizierte
Güte selbst, die Beleidigungen nicht nachhielt,
freigebig bis zur Erschöpfung seiner Mittel, oft
hochherzig bis zu dem Grad, daß sie alles mit
sich fortriß. Im heißesten Kampf blieb O'Connell
eine versöhnliche Natur, immer reich an Freunden,
auch unter seinen politischen Gegnern. Was er
seiner Familie, was er als Christ und Katholik
war, haben erst voll die Veröffentlichungen Fitz-
Patricks (s. unten) erwiesen; es ist unmöglich,
einen Ausdruck zu finden für die Zärtlichkeit seiner
Gatten- und Vaterliebe, für den Ernst und die
Hoheit der Gesinnungen, die hier zutage treten,
unmöglich auch, ohne Ergriffenheit die hier zuerst
bekannt gewordenen Aufzeichnungen religiöser
Zurückgezogenheit, seine Gebete, Selbstanklagen,
Teilnahme an fremdem Schicksal und Leid, an
kirchlichen Dingen und Einrichtungen zu lesen.
Man versteht jetzt, warum er Religion und Kirche
die größten Tröstungen seines Lebens nannte,
warum er auf seine und des Irenvolks Schicksale
hindeutend den 200 000 Iren auf dem Monstre-
meeting zu Kilkenny, die ihn umstanden, zurufen
konnte: Alles ist hier verwüstet, alles, nur die
Hierarchie und der Glaube stehen noch aufrecht,
gewaltig, inmitten der Wüste wie die Ruinen und
die ragenden Tempelsäulen von Baalbek und Pal-
myra. Nicht der politische, nur der religiöse Glaube
hat ihn im Unglück, im Kampf, im Unterliegen
stets aufrecht erhalten.
Literatur. John O'Connell, der zweite Sohn
des Liberators, schrieb die Biographie des Vaters
unter dem Titel: Life and Speeches of D. O'OC.
(2 Bde, Dublin 1846/47); Miß Cusac, The Li-
berator, his Life and Times (Lond. 1872), dazu
The Speeches and public Letters of the Liberator
(2 Bde, Dublin 1875); W. J. Fitz-Patrick, Cor-
respondance of D. O'C. the Liberator, edited with
Notices of his Life and Times (2 Bde, Lond. 1888;
vgl. Hist.-polit. Blätter 1889, 508 ff); Moriarty,
Leben u. Wirken O'C. (1843); R. Baumstark, D.
DO'C. (1873; neue Ausgabe 1904); Nemours Godre,
„D. O-’C., sa vie, son ceuvre (Par. 1900); Mac-