Full text: Staatslexikon. Dritter Band: Kaperei bis Paßwesen. (3)

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Es darf nicht auffallen, wenn demgemäß die Be- 
urteilung des Charakters eine schwankende ist. 
Die hergebrachten Bezeichnungen „Agitator“, 
„Demagoge“, „Volkstribun“ sind, abgesehen von 
dem heutigen Beigeschmack dieser Worte, dem 
liberalen politischen Jargon entlehnt, einseitig; sie 
übersehen in O'Connell den Christen, den Kelten, 
den klugen, berechnenden Staatsmann. Besser 
charakterisierte ihn Gladstone als den großen 
„Ethnogogen“, den Vorkämpfer und Führer seines 
Volks. Richtiger, aber nur an Irland erinnernd, 
war der Zuruf: „Liberator!“ Er hat, wie Mon- 
talembert sagte, ohne einen Blutstropfen zu ver- 
gießen, ein ganzes Volk neu geschaffen, für sechs 
Millionen Katholiken die politischen Rechte wieder- 
erobert. In dem „Helden des Katholizismus“ 
sieht P. Ventura den „großen Vertreter der 
Kämpfe der Kirche der Jetztzeit auf dem Boden 
des gemeinen Rechts und seiner Freiheiten“. Was 
ihm aber seine einzige Stelle gibt, ist die einheit- 
liche Verkörperung der hohen politischen, natio- 
nalen, christlichen Interessen Irlands in einer 
selten begabten, genialen Persönlichkeit und in der 
harmonischen Einheit ihres Wesens und Wirkens. 
Er war in Wahrheit der Vertreter eines 
ganzen Volks, eines ganzen Landes, 
das, ungebeugt durch tausendjährige tragische 
Schicksale, in ihm den Repräsentanten einer besseren 
Zukunft erkannte und mit altkeltischem Ungestüm 
liebte, trotz seiner Schwächen und Fehler. So er- 
klärt es sich, daß er nie in das enge moderne 
politische Parteiwesen sich finden, nie nach der 
Schnur der modernen Parlamentsrede sprechen, 
nie über Kirchenpolitik anders als nach den alt- 
irischen Traditionen urteilen lernte. Dabei war 
und blieb er stets ein überlegener, scharfsichtiger 
politischer Denker und Rechner, der unbestritten 
größte Redner des englischen Parlaments und des 
irischen Bolks, der treueste Sohn seiner Kirche und 
ihres Oberhaupts. Die ihm um seiner Gering- 
schätzung des modern-politischen Parteiwesens 
willen Ehrgeiz und Herrschsucht, um seiner natur- 
wüchsigen, oft derben und leidenschaftlichen Volks- 
rede willen bäurischen, rohen Sinn, Mangel an 
klassischer Schulung, um seines schnellen, im Veto- 
streit oft harten und verletzenden Urteils gegen 
Rom und die Bischöfe willen Mangel an kirch- 
lichem Sinn vorwerfen, gewisse Schwächen gegen 
seine Söhne, Schwiegersöhne und nächsten Freunde 
als harten Eigennutz ausgeben, werden ihm wenig 
gerecht. 
In gleicher Weise will die vielgerühmte Rede- 
gewalt O'Connells gewürdigt sein, die ihn zum 
Abgott seines Volks machte. O'Connell war ein 
geborner Volksredner; mit imponierender Gestalt, 
heller und scharfer, auch die Lebhaftigkeiten und 
Unruhen einer Massenversammlung meisternder 
Stimme, ausdruckvollstem Mienen= und Gesten- 
spiel verband sich bei ihm der echt irische Humor, 
nie versagender, schlagfertiger Witz, selten plasti- 
scher Bilder= und Wortreichtum, pathetische Be- 
O'Connell. 
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geisterung und eine Kraft der Ausnutzung der 
Blößen seiner Gegner, die ihn bis zur Nachahmung 
ihrer Schwächen in Ton, Ausdruck und Haltung 
unter schallendem Gelächter seiner Zuhörer hin- 
reißen konnte. Selbst seine Freunde beklagten, 
daß er oft sich bis zum herausfordernden Trotz in 
keltischem Ungestüm hinreißen ließ und dabei die 
Feindseligkeiten der Tories und die Gleichgültig- 
keit der Wighs, die Worte und Haltung eines Peel, 
Grey, Brougham u. a. in einer Weise geißelte, 
die seiner Sache schaden mußte. Von seinen Reden 
haben wir nur die nachgeschriebenen und später 
gesammelten Improvisationen. Er warkein Schrift- 
steller; wir haben von ihm nur den Anfang einer 
wenig beachteten Memoir of Ireland, Native 
and Saxon (Dublin 1843). Aber in seinen 
„offenen Briefen“ an das irische Volk finden sich 
Proben volkstümlicher theologischer wie politischer 
Belehrungen, die geradezu meisterhaft sind. — 
Als Mensch war O“'Connell die personifizierte 
Güte selbst, die Beleidigungen nicht nachhielt, 
freigebig bis zur Erschöpfung seiner Mittel, oft 
hochherzig bis zu dem Grad, daß sie alles mit 
sich fortriß. Im heißesten Kampf blieb O'Connell 
eine versöhnliche Natur, immer reich an Freunden, 
auch unter seinen politischen Gegnern. Was er 
seiner Familie, was er als Christ und Katholik 
war, haben erst voll die Veröffentlichungen Fitz- 
Patricks (s. unten) erwiesen; es ist unmöglich, 
einen Ausdruck zu finden für die Zärtlichkeit seiner 
Gatten- und Vaterliebe, für den Ernst und die 
Hoheit der Gesinnungen, die hier zutage treten, 
unmöglich auch, ohne Ergriffenheit die hier zuerst 
bekannt gewordenen Aufzeichnungen religiöser 
Zurückgezogenheit, seine Gebete, Selbstanklagen, 
Teilnahme an fremdem Schicksal und Leid, an 
kirchlichen Dingen und Einrichtungen zu lesen. 
Man versteht jetzt, warum er Religion und Kirche 
die größten Tröstungen seines Lebens nannte, 
warum er auf seine und des Irenvolks Schicksale 
hindeutend den 200 000 Iren auf dem Monstre- 
meeting zu Kilkenny, die ihn umstanden, zurufen 
konnte: Alles ist hier verwüstet, alles, nur die 
Hierarchie und der Glaube stehen noch aufrecht, 
gewaltig, inmitten der Wüste wie die Ruinen und 
die ragenden Tempelsäulen von Baalbek und Pal- 
myra. Nicht der politische, nur der religiöse Glaube 
hat ihn im Unglück, im Kampf, im Unterliegen 
stets aufrecht erhalten. 
Literatur. John O'Connell, der zweite Sohn 
des Liberators, schrieb die Biographie des Vaters 
unter dem Titel: Life and Speeches of D. O'OC. 
(2 Bde, Dublin 1846/47); Miß Cusac, The Li- 
berator, his Life and Times (Lond. 1872), dazu 
The Speeches and public Letters of the Liberator 
(2 Bde, Dublin 1875); W. J. Fitz-Patrick, Cor- 
respondance of D. O'C. the Liberator, edited with 
Notices of his Life and Times (2 Bde, Lond. 1888; 
vgl. Hist.-polit. Blätter 1889, 508 ff); Moriarty, 
Leben u. Wirken O'C. (1843); R. Baumstark, D. 
DO'C. (1873; neue Ausgabe 1904); Nemours Godre, 
„D. O-’C., sa vie, son ceuvre (Par. 1900); Mac- 
 
	        
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