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leidigung der Kirchendiener wird gestraft; schlechte
Bücher werden durch staatliche Zensur verboten.
Die Kirche steht nicht nur unter der Protektion,
sondern auch unter der Kuratel des Staates, wel-
cher zu diesem Zwecke oft eigene Kirchenräte einsetzte.
4. Das Reformationsrecht der verflossenen Jahr-
hunderte, wonach der Landesherr zwangsweise
die Religion seiner Untertanen bestimmen konnte
(cuius regio, illius religio), hat durch den West-
fälischen Frieden, die daselbst vorgeschriebene Be-
obachtung des Nornygljahres von 1624, eine nicht
unbedeutende Einsänkung erfahren. An seine
Stelle trat aber das Recht des Staates, über das
den einzelnen Konfessionen zu gewährende Maß
von Toleranz und Religionsübung zu befinden.
Der Staat kann gewisse Konfessionen verbieten;
er kann deren Anhängern Hausandacht gewähren,
und zwar einfache ohne oder qualifizierte mit Zu-
ziehung eines Religionsdieners. Er kann gemein-
same private oder aber öffentliche Religionsübung
(exercitium religionis) gewähren; die derart
rezipierten Religionsgenossenschaften werden hinter
einer als herrschend erklärten Kirche (ecclesia do-
minans) in gewissen Beziehungen zurückgesetzt oder
aber untereinander gleichgestellt Parität) sein. Vgl.
Ditterich, Primae lineae iuris publici eccle.
siastici (Straßburg 1776); J. J. Moser, Ab-
handlungen aus dem teutschen Kirchenrecht (1772);
ders., Von der Landeshoheit im Geistlichen
(1773); J. Chr. Majer, Teutsches geistliches
Staatsrecht (2 Tle, 1773). — Noch in der zweiten
Hälfte des 19. Jahrh. wurde dieses veraltete Sy-
stem mit Vorliebe von deutschen Staatsrechts-
lehrern vorgetragen. Vgl. Zöpfl, Grundsätze des
allgem. deutschen Staatsrechts II (1856) 811 ff;
Rob. Mohl, Politik 1 (1862) 171 ff; Hermann
Meyer, Lehrbuch des deutschen Staatsrechts1885
680 ff
XV. Besser gestaltete sich das Verhältnis der
Kirche zum Staat nach der Theorie des Rechts-
staates. Danach ist es die Hauptaufgabe des
Staates, das Recht überall zu schützen; der Rechts-
staat erklärt keineswegs, wenigstens nicht notwen-
dig, sich für den allgemeinen Grund alles Rechts;
er gibt vielmehr seinem Begriffe nach die Existenz
des Rechts auch vor und unabhängig von dem
Staat zu. In dieser Theorie ist für eine eigenbe-
rechtigte, selbständige Kirche Raum. Allerdings be-
ansprucht der Rechtsstaat gleichfalls Kirchenhoheit,
und zwar in doppelter Richtung: einmal in bezug
auf die Stellung einer Mehrheit von Kirchen im
Staatsgebiet und dann in bezug auf die Stellung
der einzelnen Kirchen zum Staat. In ersterer Hin-
sicht fielen zugunsten der Freiheit des Individuums
regelmäßig die früheren Schranken; es wurde im
weitesten Sinne Religionsfreiheit als Grundrecht
der Bürger gewährleistet und Besitz wie Ge-
nuß der bürgerlichen und politischen Rechte vom
Glaubensbekenntnisse unabhängig erklärt. Dabei
erhielt sich das System der Rezeption bestimmter,
als Korporationen staatlich anerkannten und sonst
Kirche und Staat.
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privilegierten Religionsgenossenschaften, deren Be-
handlung eine paritätische sein kann, aber nicht sein
muß. Was das Verhältnis der einzelnen Kirche
zum Staat anlangt, so wird durchweg grund-
gesetzlich den anerkannten Religionsgesellschaften
die selbständige Ordnung ihrer innern Angelegen-
heiten sowie Besitz und Genuß ihrer Anstalten
und Güter gewährleistet. Schon damit ist aus-
gesprochen, daß der Kirche ein selbständiges Dasein
eignet. Wenn freilich die staatliche Gesetzgebung
daran geht, nach eigenem Ermessen, ohne Rücksicht
auf die bisher geltende Ordnung und das Recht
der Kirche, die „äußern Verhältnisse“ einer Kirche
zu normieren, so ist hier die Gefahr einer Schädi-
gung kirchlicher Rechte und Interessen nahe gerückt.
Da kaum eine kirchliche Lebensäußerung denkbar
ist, ohne daß sie in die Kategorie der „äußern
Verhältnisse“ fällt, so kann auch im Rechtsstaat
auf gesetzlichemn Wege genommen werden, was
staatsgrundgesetzlich garantiert ist: die Selbstän-
digkeit der Kirche in Ordnung ihrer innern An-
gelegenheiten. Vgl. Bluntschli, Allgem. Staats-
recht II (1868) 264 ff, und dessen Abhandlung
„Kirchenhoheit“ im Deutschen Staatswörterbuch
V (1860) 564/578.
XVI. Die pantheistische sowie die atheistische
Weltanschauung konstruiert, wie um die Leugnung
eines persönlichen Gottes in etwas auszugleichen,
einen Staat, welcher Selbstzweck ist: die Wirklich-
keit der sittlichen Idee, die höchste Stufe der Ent-
wicklung des Seins, omnipotent, Gott selbst.
Eigentümlicherweise findet sich aber dieser Begriff
des absoluten Staates nicht nur bei Hobbes
(gest. 1679) und Spinoza (gest. 1677), bei Hegel
(gest. 1831) und Schelling (gest. 1854), sondern
auch in der scheinbar konservativen Philosophie
Herbarts (gest. 1841), sofern neben dessen „Idee
der vollkommenen, beseelten Gesellschaft“, d. i.
neben dem Staate, für die Kirche und für die
Pflege der Religion kein Platz mehr ist. Überall
erscheint der Staat seiner Aufgabe nach als
Kulturstaat, sofern er wahre Kultur zu bieten
berusen ist. Wer immer dem Staate als aus-
schließlichem Träger wahrer Kultur sich nicht blind
ergibt, so insbesondere die katholische Kirche, ist
ein Feind der Kultur wie des Staates, und der
vom Staate gegen eine solche vor dem Staats-
götzen sich nicht beugende Kirche geführte Kampf
wird zum „Kulturkampf“. Der absolute Staat,
die sog. Ideokratie, sieht in der Kirche nicht wie
der Polizeistaat eine willkommene Gehilfin in der
Erreichung der Staatswohlfahrt, sondern etwas,
was besser nicht sein sollte (auf die Kirche bezog
sich Voltaires Wort: Ecrasez l’infäme!)), und
etwas, was derzeit noch geduldet wird, weil der
Staat noch zu wenig kräftig ist, alle Gesellschaften,
also auch die Kirchen, zu absorbieren. Das Ziel
dieser Theorie ist: der Staat in seiner Absolut-
heit ist alles in allem.
XVII. Die Phrase „freie Kirche im freien
Staat“ kann einen guten Sinn haben, sofern