1461
I. Geschichte. A. Bis zur Entstehung des
zentralisierten Gesamtstaats 1740. Die öster-
reichisch-ungarische Monarchie ist aus dem Be-
streben erwachsen, die in dem Flußgebiet der mittle-
ren Donau und den dazu gehörigen Randgebirgen
(Sudeten, Karpaten, illyrische Karstgebiete) wohn-
haften Volksstämme politisch zu einigen. Dieser
staatsbildende Zug mußte um so weitere Kreise
ziehen, je weiter mit der Entwicklung der Boden-
produktion, der handwerksmäßigen Technik und
des Verkehrs die politischen Organisationsmög-
lichkeiten sich ausdehnten, also über die zu Grenz-
schutzzwecken erweiterte Grundherrschaft der ersten
Karolingerostmark (803/907) zur erweiterten Ost-
mark (976/1156) und zum Herzogtum Osterreich
der Babenberger (1156/1246) und zum Abschluß
der ersten habsburgischen Regentenreihe (1282
bis 1493), der Werdezeit der Landesherrlichkeit.
Hiermit war der Zeitpunkt für die politische Be-
herrschung größerer Staatsgebilde und für den
Beginn der neuzeitlichen territorialstaatlichen und
volksstaatlichen Entwicklung erreicht. — Drei
national geschiedene politische Entwicklungen führ-
ten in dieser ersten landesherrlichen Periode zu
dauernden Staatsgebilden, die auch nach ihrer
Vereinigung noch die Komponenten der inner-
staatlichen Entwicklung Osterreichs bis zur Ge-
genwart blieben: die deutsche Ländergruppe der
oberen Donau= und Alpenländer, die Sudeten-
länder Böhmen und Mähren mit überwiegend
tschechoslawischer Bevölkerung, durch Jahrhun-
derte unter dem einheimischen Herrschergeschlecht
der Premysliden, und das unter den magyarischen
Arpaden stehende Donau-Theiß-Land. 1526 ge-
lang nach manchem gescheiterten Versuch und nach
sorgfältiger Vorbereitung durch Heirats= und Erb-
verträge den Habsburgern die Vereinigung der
drei Ländergruppen durch Personalunion. Die
Verbindung der österreichischen Herrschaft mit der
Krone des römischen deutschen Reichs, die gewaltige
kulturelle Uberlegenheit des Deutschtums und das
Schutzbedürfnis Ungarns gegenüber dem türkischen
Vorstoß ermöglichten die Vereinigung. Gleich-
zeitig spaltete sich aber die habsburgische Familie
in einen österreichischen und einen spanischen Zweig,
so daß die Interessen des Hauses, damals noch
identisch mit den Staatsinteressen, von den Niede-
rungen der Theiß bis nach Spanien und in die
Neue Welt reichten. Eine innere Festigung der
neuerworbenen Herrschaft, eine Annäherung der
einander noch fremden Staatsgebiete war unter
diesen Verhältnissen nicht zu erwarten. Sie trat
tatsächlich erst ein, als Maria Theresia, als öster-
reichischer Regent für 40 Jahre von der drücken-
den Last der römischen Kaiserkrone befreit, sich
ganz der Verwaltung ihrer Länder widmen konnte.
Charakteristisch für die Geschichte des österreichi-
schen Gesamtstaats seit seiner Entstehung ist die nur
durch kurze Pausen unterbrochene Bedrohung seines
Bestands durch innere und äußere Feinde. Als
innerer Feind trat zunächst der Protestantismus
Osterreich-Ungarn.
1462
in Verbindung mit den ständischen Herrschafts-
bestrebungen auf. Daß es sich hierbei, abgesehen
von den religiösen Motiven, um einen Macht-
kampf zwischen Adel und Landesherren handelte,
ist gewiß, ebenso gewiß, wie daß im Fall eines
Siegs des protestantischen Adels der Katholizis-
mus wie die habsburgische Herrschaft in den öster-
reichischen Landen der Säkularisation verfallen
wären. Zwischen diesem innern und den äußern
Feinden der habsburgischen Großmacht spannen
sich bald Beziehungen an, die schon unter Ferdi-
nand I. zum Abfall des größeren Teils von Un-
garn teils unmittelbar unter türkische Herrschaft
teils unter die des türkischen Lehnsträgers Fürst
Zapolya von Siebenbürgen führten. In zwei
Jahrhunderte währenden Kriegen gelang es der
Habsburger Monarchie erst in der Verteidigung
(bis 1683), dann im Angriff den Ansturm des
Halbmonds auschristliche Kultur und europäisches
Staatswesen zurückzuweisen, sich aber damit auch
ein dauerndes Anrecht auf Mitentscheidung in der
orientalischen Frage zu sichern. Die Wiederein-
verleibung des ungarischen Gebiets bis zur Donau-
und Savegrenze erfolgte 1699 und 1718. Aber
obwohl ein großer Teil des ungarischen Adels auf
türkischer Seite gegen Habsburg gekämpft hatte,
Ungarn also, sowohl dem äußern als dem innern
Feind abgerungen, als erobertes Land betrachtet
werden konnte, gelang es den Habsburgern auch
auf der Höhe ihrer Erfolge nicht, die absolute
Herrschaft, die sie in den andern Reichsteilen aus-
übten, auch auf Ungarn auszudehnen. Die un-
garischen Stände behaupteten ihre Rechte auf den
Gebieten der Gesetzgebung, der Steuer= und Re-
krutenbewilligung bis zum Jahr 1848. Nur die
Anerkennung der Erblichkeit der ungarischen Krone
im Mannesstamm der Habsburger und die Auf-
gabe des Insurrektionsrechts gegen die Krone
konnte Leopold I. (1657/1705) am Preßburger
Reichstag durchsetzen. Hingegen mußten die Habs-
burger im Frieden von Szatmär 1711, der die
Empörung Raköczys II. beendete, allen christlichen
Religionsbekenntnissen in Ungarn Gleichberechti-
gung zugestehen. In Böhmen, Nieder-, Vorder-
und Innerösterreich, wo die Landesherrlichkeit noch
durch Landesteilungen in der habsburgischen Fa-
milie geschwächt war, drang die Reformation bis
Ende des 16. Jahrh. siegreich vor. Die protestan-
tischen Stände wußten ihren Landesherren ent-
gegen den Bestimmungen des Augsburger Reli-
gionsfriedens Duldung ihres Religionsbekennt=
nisses durch Verweigerung der Geldmittel für die
Türkenkriege abzuzwingen und benützten dieselbe,
um mit Hilfe der aus Deutschland berufenen
Prädikanten ihre Untertanen zu reformieren. Erst
der Wiedervereinigung der habsburgischen Länder
unter Ferdinand II. (1619/37) und der eifrigen
seelsorgerlichen und Unterrichtsarbeit des Jesuiten-
ordens gelang die Rekatholisierung.
In Böhmen, das sich besonderer Religions-
privilegien und eines Defensorenkollegiums zu