Full text: Staatslexikon. Dritter Band: Kaperei bis Paßwesen. (3)

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Mandate vergrößerten neuen Hause spielen die im 
Volk wurzelnden Parteien die erste Rolle. An der 
Spitze stehen mit 96 Mandaten die Christlich- 
Sozialen, ihnen schließen sich die Sozialdemokraten 
mit 86 Mandaten an. Die ehemals tonangeben- 
den nationalliberalen Parteien sind in eine große 
Anzahl von Fraktionen zersplittert und nur lose 
zu nationalen Verbänden zusammengefügt. Auch 
die Christlich-Sozialen stehen mit den deutsch-libe- 
ralen Parteien im sog. Gemeinbürgschaftsverhält- 
nis, der Verständigung von Fall zu Fall in na- 
tionalen Fragen. Die Deutsch-Liberalen haben sich 
im deutschen Nationalverband eine lose Organi- 
sation gegeben, Tschechen und Südslawen haben 
sich in der slawischen Union als Oppositionspartei 
gegen die Regierung vereint. Es sind also vor- 
läufig im großen und ganzen noch die nationalen 
Verhältnisse, die die Physiognomie des neuen 
Parlaments bestimmen, und so war auch bald, 
nachdem das neue Haus sich konstituiert und einen 
neuen Ausgleich mit Ungarn 1907 erledigt 
hatte, nachdem infolge der Obstruktion die gemein- 
samen Angelegenheiten zehn Jahre ohne Aus- 
gleichsvereinbarungen auf dem sog. Reziprozitäts- 
fuße geführt worden waren, ein Rückfall in die 
Obstruktionskrankheit nicht zu vermeiden. Den 
Ausgang nahm diese neuerliche, von den Tschechen 
und Slowenen geführte Obstruktion von dem böh- 
mischen Sprachenkampf; die Slowenen beteiligten 
sich wegen der geringen Berücksichtigung, die ihre 
Interessen bei der Regierung fanden. Die deutschen 
Parteien waren endlich, durch die Lehren ihrer Ge- 
schichte bewogen, auf den realpolitischen Stand- 
punkt gelangt, auf eine gesetzliche Hegemonie des 
deutschen Stammes in Osterreich zu verzichten, sich 
mit dem durch ihre kulturelle Überlegenheit ge- 
währleisteten Ubergewicht zu begnügen und nur 
dort, wo sie einem starken und kampfeslustigen 
Gegner gegenüberstanden, wie den Tschechen in 
Böhmen, die Wahrung ihres nationalen Besitz- 
stands auf gesetzlichem Weg zu erstreben. Sie 
fordern daher die nationale Zweiteilung der staat- 
lichen und autonomen Verwaltung Böhmens, da 
sie bei den in der Majorität befindlichen Tschechen 
nicht die genügende Berücksichtigung ihrer Inter- 
essen finden. Der größere Teil der tschechischen 
Parteien steht demgegenüber auf dem sog. staats- 
rechtlichen Standpunkt der Unteilbarkeit des König- 
reichs Böhmen. Der Standpunkt der Deutschen 
scheint dem unbefangenen Beobachter der öster- 
reichischen Verhältnisse gerechtfertigt, nur müßte 
er von ihnen konsequent für die ganze Monarchie 
vertreten werden. Bedauerlicherweise weigern sich 
aber die deutschen Parteien noch dort, wo sie die 
Majorität besitzen, in Tirol, Kärnten, Steiermark, 
den fremdsprachigen Minoritäten die nationale 
Autonomie zuzugestehen. Diese nationalen Fragen 
müssen noch bereinigt werden, bevor die Arbeits- 
fähigkeit des österreichischen Parlaments für die 
Dauer gesichert sein wird. Schon hat sich aber 
das Parlament selbst aufgerafft und durch einen 
Osterreich-Ungarn. 
  
1478 
im Dez. 1909 angenommenen Geschäftsordnungs- 
antrag die Suspendierung jener Bestimmungen 
der Geschäftsordnung des österreichischen Abgeord- 
netenhauses für ein Jahr vorgenommen, die vor 
allem die mutwillige Obstruktion kleiner Gruppen 
von Abgeordneten ermöglichten. Es ist begründete 
Aussicht vorhanden, daß im Jahr 1910 durch 
eine definitive Geschäftsordnungsreform und durch 
die hierdurch erst ermöglichte parlamentarische 
Verhandlung der Nationalitätenfragen die Ob- 
struktion dauernd aus dem österreichischen Parla- 
ment gebannt werde. 
Ein zweites, nicht minder wichtiges Problem 
ist in den letzten Dezennien die Gestaltung des 
Verhältnisses zu Ungarn geworden. Der 1867 
geschaffene Dualismus, das Verhältnis der Real- 
union, befindet sich in voller Krise, die Entwick- 
lung dürfte entweder zur reinen Personalunion 
oder zu einer festeren, dauernden Verbindung der 
beiden Reichshälften führen. In Ungarn hatten 
nach Wiederaufleben der alten Verfassung die alten 
politischen Machthaber, die Großgrundbesitzer, die 
Herrschaft wieder an sich genommen und nur einen 
Teil derselben an die durchweg jüdische Kapita- 
listenklasse und die dünne Schicht der ungarischen 
Intelligenz abgegeben. Die Massen des Volks 
und noch mehr die anderssprachigen Bevölkerungs- 
teile waren und blieben rechtlos. Nur den Kroaten 
war eine beschränkte Autonomie mit einem Land- 
tag und einer von der ungarischen Regierung 
durchaus abhängigen Verwaltung in Agram ein- 
geräumt worden. Die herrschende Partei in Un- 
garn ist seit 1867 liberal, wenn sie auch öfters 
Namen und Programm geändert hat. Auch Un- 
garn hatte eine Periode kirchenpolitischer Gesetz- 
gebung in den 1890er Jahren mitgemacht; die 
Schlagworte, die aber seit mehr als 10 Jahren 
das öffentliche Leben in Ungarn beherrschen, sind 
staatsrechtlicher Natur. Die Unabhängigkeitspartei 
unter der Führung Franz Kossuths, des Sohnes 
des Diktators von 1849, strebt die reine Per- 
sonalunion an und wußte in den letzten Parla- 
mentswahlen 1906 die Mojorität der Wähler für 
sich zu gewinnen. Aber auch die der Realunion 
noch anhängenden Parteien, die 1867er, streben 
eine Ausgestaltung des Dualismus an, die sich 
sehr weit von der Basis von 1867 entfernt und 
bei der Osterreich nicht weiter die finanziellen 
Opfer für die Gemeinsamkeit zugemutet werden 
könnten, die es bisher getragen hat. Da die Krone 
für Aufrechterhaltung der dualistischen Verfassung 
keine Majorität mehr im ungarischen Reichstag 
besitzt, da sie anderseits nicht mit Unrecht die Per- 
sonalunion als mit der politisch-geographischen 
Struktur der Donaumonarchie unvereinbar er- 
kennt, hat sie sich entschlossen, vom gegenwärtigen 
Parlament an die große Masse der ungarischen 
Bevölkerung durch Verleihung des allgemeinen 
Stimmrechts zu appellieren, da sie erwartet, daß 
diese bisher politisch rechtlosen Kreise die wirt- 
schaftlichen Vorteile der Gemeinsamkeit besser 
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