Full text: Staatslexikon. Dritter Band: Kaperei bis Paßwesen. (3)

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die Kirche von den Fesseln, welche ihr die Präven- 
tivmaßregeln des Polizeistaates angelegt hatten, 
befreit werden soll. In diesem Sinne gebrauchte 
das Wort zuerst Graf Montalembert (gest. 1870), 
der geniale Vorkämpfer der kirchlichen Freiheit. 
Vgl. dessen L'église libre dans l'état libre 
(Paris 1863); vgl. Maaßen, Neun Kapitel über 
freie Kirche und Gewissensfreiheit (1876). — Der 
Satz wurde in einem andern Sinne zum Losungs- 
wort der liberalen Partei, welche unter dieser 
Flagge nichts anderes anstrebt als die durch- 
gängige und gewalttätige Trennung von Staat und 
Kirche ohne Rücksicht auf wohlerworbene Rechte 
der Kirche. Gegen die teils von Schwärmern wie 
La Mennais (gest. 1854), teils von praktischen 
Politikern wie Cavour (gest. 1861) zum Axiom 
erhobene Forderung der Trennung von Staat und 
Kirche erklärte sich deshalb wiederholt der Apo- 
stolische Stuhl, so Gregor XVI. (Enzyklika vom 
15. Aug. 1832) und Pius IX. (Enzyklika vom 
27. Sept. 1854, daraus Syllab. (18641 55). 
Die Trennung von Kirche und Staat darf nie als 
Ideal hingestellt werden; sie ist nur ein malum 
minus gegenüber einer wirren Verfolgung der 
Kirche seitens der Staatsgewalt oder gegenüber 
einer angehenden Verstaatlichung der Kirche. Vgl. 
Bas, Etude sur les rapports de I’église et 
de I’état et sur leur séparation (St-Quentin 
1882); Rothenbücher, Die Trennung von Staat 
und Kirche (1908). — Noch schlimmer ist, wenn 
die Trennung des Staates von der Kirche von der 
Staatsgewalt verfügt wird unter gleichzeitiger 
Einziehung des kirchlichen Fabriks-, Pfründen- 
und Stiftungsvermögens, und wenn zumal den 
derart auf sich selbst gestellten Religionsgesell- 
schaften juristische Existenz nur unter der Voraus- 
setzung zuerkannt wird, daß dieselben gemäß eines 
auf die Verfassung der katholischen Kirche nicht 
Rücksicht nehmenden organischen Statuts sich als 
lokale Kultusvereine konstituieren; so nach fran- 
zösischem Trennungsgesetz vom 9. Dez. 1905. 
Hier liegt weniger Trennung von Staat und 
Kirche vor als vielmehr „Gezügelte Kirche im 
freien Staat“ (Titel einer Broschüre von Ma- 
kower, Berlin 1908). 
XVIII. Eine andere Theorie geht von der 
Indifferenz der Religion für den staatlichen 
Bereich aus. Hier handelt es sich nicht darum, 
die bisher verbundenen staatlichen und kirchlichen 
Gegenstände zu lösen; vielmehr soll der Staat 
überhaupt zu den Religionen und Religions- 
genossenschaften in gar keine Beziehung treten. 
Dem Staate fehle jeder Beruf für Übernatür- 
liches; er habe um den Glauben seiner Bürger 
sich einfach nicht zu kümmern; „Religion ist Pri- 
vatsache“. Kirchliche Vereinigungen sind nicht 
anders wie sonstige Vereine zu beurteilen, unter- 
stehen lediglich dem gemeinen Recht, haben aber 
auch auf den gemeinen Rechtsschutz Anspruch. 
Man pflegt dieses System auch das nordameri- 
kanische zu nennen. Diese Theorie entbehrt durch- 
Kirche und Staat. 
  
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aus der Begründung; es kann einem Regenten 
nie gleichgültig sein, ob und was für eine Reli- 
gion im Lande Anhänger hat. Es geht nicht an, 
große Kirchen mit Lesevereinen und Erwerbs- 
gesellschaften auf eine Linie zu stellen. Kein 
Staatswesen wird der religiösen Färbung völlig 
entraten; die Regierung wird immer einer be- 
stimmten Religion mehr oder minder geneigt oder 
abgeneigt sein. In der Tat verleugnet auch die 
nordamerikanische Union nicht ihren im Grunde 
christlichen Charakter; sie kennt zwar keine Staats- 
religion und noch weniger eine Staatskirche, des- 
halb ist ihr aber keineswegs gleichgültig, daß die 
Bürger der überwiegenden Mehrheit nach Christen 
sind; sie hält die Sonntagsfeier strenge aufrecht, 
sie sorgt für die religiösen Bedürfnisse der Truppen, 
sie ging mit Verbot und Gewaltmaßregeln gegen 
die Sekte der Mormonen vor. Vgl. Schaff, Church 
and State in the United States or the Ameri- 
can Idea of religious Liberty and its practi- 
al Effects (Neuyork 1888). — Vom Standpunkt 
der katholischen Kirche ist die Theorie von der 
Indifferenz des Staates gegen die einzelnen reli- 
giösen Bekenntnisse verwerflich, sofern dadurch der 
religiöse Indifferentismus, der größte Feind einer 
jeden positiven Religion, gefördert wird (s. Syl- 
lab. 79); in der Praxis benutzt die Kirche unter 
allen Umständen die ihr gewährte Freiheit zur 
reichsten Entfaltung ihrer Kräfte. 
XIX. Stark verbreitet und im besten Sinne 
des Wortes populär ist die Vorstellung von der 
Koordination des Staates und der Kirche. 
In gedrängtester Form scheint damit das Ver- 
hältnis beider Gewalten in einer formal unan- 
fechtbaren Weise ausgedrückt zu sein. Kein Ver- 
hältnisglied kann über Zurücksetzung klagen, ist 
doch das andere Verhältnisglied nicht besser ge- 
stellt; jede Macht ordnet ihre Verhältnisse für 
ihren Bereich nach ihrer Weise. Die Theorie 
versuchte nach rein begrifflichen Erwägungen die 
staatlichen und die kirchlichen Gegenstände abzu- 
ondern; es gelang ihr aber so wenig wie den ihr 
folgenden Gesetzen (vgl. Schulte, Kirchenrecht 1. 
415/434; Kahl, Kirchenrecht und Kirchenpolitik 
111894284, bayrisches Religionsedikt von 1818, 
§§ 38. 64, 76), in bestimmter und beide Teile 
befriedigender Weise die Scheidung der causae 
mere civiles und mere ecclesiasticae durch- 
zuführen, da schon der Einteilungsgrund, sei es 
der Außerlichkeit, sei es des Zweckes, nicht selten 
versagt, eine einseitige Entscheidung von der andern 
Seite nicht akzeptiert werden muß und endlich eine 
ganze Reihe von gemischten Angelegenheiten (res 
mixtae) aufgestellt zu werden pflegt, z. B. Ehe- 
recht, Benefizialverhältnisse, Vermögensrecht. Da- 
mit sind aber Gegenstände zugegeben, deren Reg- 
lung Staat und Kirche zumal interessiert. In- 
nerlich unbegründet ist es, wie dies im bayrischen 
Religionsedikt (88 77, 78) geschieht, die Reglung 
dieser gemischten Angelegenheiten der Kirche zu 
verbieten und dem Staate zu gewähren. Mit 
 
	        
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