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erkennen und sich weniger von staatsrechtlichen
Schlagworten leiten lassen werden. Noch wehren
sich die an der Macht befindlichen Parteien Un-
garns gegen das allgemeine Stimmrecht, aber es
ist auch in Ungarn auf dem Weg. Es wird
zweifellos auch dem bisher von der herrschenden
magyarischen Partei mit beispielloser Härte gegen
die Nationalitäten (Deutsche, Rumänen, Slowa-
ken, Serben) in Amt und Schule geführten Kampf
ein Ende bereiten.
Ein drittes Moment, das auf die Weiterbil-
dung des österreichisch-ungarischen Staatswesens
zweifellos von größtem Einfluß sein wird, ist
durch die 1908 erfolgte Annexion der bisher im
europäischen Auftrag besetzten und verwalteten
Länder Bosnien und die Hercegovina gegeben.
Den Anstoß hierzu hatten einerseits die Verfas-
sungsbewegung in der Türkei und die hierdurch
veranlaßte Aufrollung der Frage nach der Be-
endigung der Okkupation, anderseits die groß-
serbischen Aspirationen auf den Besitz dieser Län-
der, die dem Königreich Serbien die Verbindung
mit Montenegro und dem Adriatischen Meer er-
öffnen sollten, gegeben. Mit der Allerhöchsten
Verfügung vom 5. Okt. 1908 wurde die Aus-
dehnung der Souveränität des österreichisch-unga-
rischen Herrschers auf die Okkupationsländer aus-
gesprochen und ihnen gleichzeitig die Erteilung
einer Repräsentativverfassung angekündigt. Durch
eine Konvention mit der Türkei vom 26. Febr.
1909 wurde dieser Schritt von seiten der türkischen
Regierung anerkannt, wogegen Osterreich-Ungarn
auf sein Besatzungsrecht im Sandschak verzichtete,
die Kultusfreiheit der Mohammedaner neuerlich
garantierte und für Ablösung des unbeweglichen
türkischen Staatseigentums an die Pforte 2½ Mill.
türk. Pfund entrichtete. An dem staatsrechtlichen
Verhältnis der annektierten Länder zu den beiden
Reichshälften hat sich vorläufig nichts geändert;
sie befinden sich nach wie vor unter deren Kondo-
minium. Dieser Zustand dürfte aber kaum von
Dauer sein, denn einerseits beansprucht Ungarn
die beiden Länder auf Grund angeblicher, vor der
Türkenherrschaft erworbener Eigentumsansprüche
für sich, anderseits aber streben die der serbo-
kroatischen Nation angehörigen Bewohner von
Kroatien, Bosnien und Dalmatien nach staats-
rechtlicher Einigung und Gleichstellung mit Oster=
reich und Ungarn unter habsburgischem Zepter.
Diese politische Idee des Trialismus, die
schon der kroatischen Bewegung des Jahres 1848
vorschwebte, die dann später in dem Bischof
Stroßmayer von Diakovär ihren begeistertsten
und hervorragendsten Vorkämpfer gefunden hatte,
scheint jetzt greisbare Formen angenommen zu
haben und in erkennbare Nähe gerückt zu sein. In
Osterreich findet sie warme Unterstützung bei der
christlich-sozialen Partei und den Slowenen. In
diesen Parteien geht man von der Anschauung
aus, daß gegenüber den panslawistischen Um-
trieben, die von Rußland und Serbien aus ge-
Osterreich-Ungarn.
1480
nährt, die Sicherheit und den Bestand der Mon-
archie bei weiterem Umsichgreifen bedrohen könn-
ten, eine Einigung der österreichischen Südslawen
auf österreichischer und christlich-sozialer Grundlage
erfolgen müsse (Austroflawismus); daß nur unter
dem Banner des Okzidentalismus die Südflawen
jene kulturelle Höhe erreichen könnten, die sie zur
Ausübung politischen und kulturellen Einflusses
unter den Balkanslawen, wobei die Idee der kirch-
lichen Union auch eine Rolle spielt, befähigen
würde. Daß aber die Mission OÖsterreichs darin
besteht, als Bannerträger europäischer und christ-
licher Kultur gegen den kulturarmen Islamismus
und gegen die in Erstarrung liegende griechisch-
orientalische Kultur zu wirken, bezeugt, wenn
anders man sich auf historische Zeugnisse berufen
darf, die Geschichte dieses Staats.
II. Iläche und Bevölkkerung. Der Flä-
cheninhalt Osterreich-Ungarns beziffert sich mit
Einschluß Bosniens und der Hercegovina auf
675 975 qkm mit 46972359 Einwohnern (Zäh-
lung vom 31. Dez. 1900). Davon entfallen
26 150 708 auf Zisleithanien, 19 254 559 auf
Transleithanien und 1567 092 auf Bosnien und
die Hercegovina.
Zunahme der Bevölkerung in den letzten vier
Dezennien:
rung 1 rung 1
überhaupt dkm überhaupt qkm
15 509 455 47.6 35 904435 57
15 739 375 48.3 37 883 619 60
1800 23 895 413 80 17463473; 54 41 358 886 65
1900 26 150 708 87 19254559 59 45 405 2671 72
Die Bevölkerung verteilt sich nach Staaten, Län-
dern und Flächenraum folgendermaßen (1900):
— « I I t«
E Osterreich Ungarn r
— — — —— — — —
l Bevölke. auf Bevölke= auf Bevölke- " auf
rp
r
rung 1
überhaupt dkm
1869 20 394 980 68
880 22 144 214 7
—
XL
lãchen· e
Königreiche und Länder un sini- 1 in
4 1900
aa) Österreich. ·
Ofterrecchnnterbekcxnns..-198248100493156
Ofterreichobdersanö...11982 810 246 68
Salzburg.g.. 7153 192 7634 27
Steiermarrr . 22426 1356 494 60
Kännen 10 327 367324 36
Kran 9955 508 150 51
Jstrin 955 345 050 69
SGörz und Gradiska 2918 232 897. 80
& Triet 95 1785991 1880
—DPÄ5555) 23 683 852 7122 32
Vorarlbenng 2602 129 237 49
Böhnen 51949 6318 697 122
Mäheren 22222 2 4377 110
Schlessen 5147 680 422 132
Galizien. 78 496 7 315 939 93
Bukowmnnnnna 10 442 730 195 70
Dalmatien 12 8832 593 784 46
Summe a /300 008 /26 150 708 87
b) Länder der ungar. Krone. |
Ungarn mit Siebenbürgen. 282 303 16 799 3604
Fiume mit Gebiet l 20 38 955 1947
Kroatien und Slawonien 42 534 2416 304 57
Summe d 324857 19 254 559) 55
Bosnien und Hercegovrina . 51 110 1567092 31
Summe fürd. Gesamtmonarchie 675 975 (46 972 359) 70