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besserer Konsequenz wahrt die Theorie einem jeden
Teile das Recht, über die gemischten Angelegen-
heiten gesetzlich zu befinden. Dann wird es vom
Zufall abhängen, ob die beiderseitigen Dispo-
sitionen sich inhaltlich decken oder den Dualismus
beider Gewalten in einer dem Prinzip der Koor-
dination widersprechenden Weise zum Ausdruck
bringen. Gut gemeint ist die These, daß keine
Gewalt einseitig in Reglung der gemischten An-
gelegenheiten vorgehen, sondern jede im Einver-
ständnisse mit der andern das Geeignete verfügen
solle. Hier ist zu bemerken, daß die beiden Fak-
toren nicht immer oder nicht schnell und leicht sich
vereinigen können und eine höhere Instanz fehlt,
auftauchende Differenzen definitiv zu schlichten.
Ein Teil wird immer nachgeben müssen; das wird
der Theorie nach der Staat, in der Praxis die
Kirche sein. Auch so wird das Axiom von der
Koordination beider Gewalten nur zu leicht ad
absurdum geführt werden. Dazu kommt noch,
daß im Grunde keist Teil die völlige Gleichord-
nung des andern Teiles zugeben wird; die Kirche
wird von ihrer Superiorität dem einzelnen Staat
wie allen Staaten gegenüber ebenso überzeugt sein, —
wie ein kräftiger, selbstbewußter Staat unter Um-
ständen Bedenken tragen wird, sich mit jeder der
zahlreichen verschiedenen Religionsgenossenschaften,
welche innerhalb seines Gebietes vertreten sind,
auf eine Linie zu stellen. Vgl. Martens, Die Be-
ziehungen der Uberordnung, Nebenordnung und
Unterordnung zwischen Kirche und Staat (1877).,
XX. Folgende Sätze dürften unseres Erachtens
die Lösung der in Rede stehenden Frage nach dem
Kirche und Staat.
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scher wird als Ideal eine wechselseitige Unter-
stützung staatlicher und kirchlicher Gewalten zum
Heile der Untertanen und zur Kräftigung von
Staat und Kirche vorschweben, eine Verbindung,
doch keine Vermischung beider Gewalten und
Gegenstände.
4. Unter allen Umständen, auch wo der Regent
nicht Katholik ist, wird die Kirche anstreben die
Wahrung ihrer Würde, die Freiheit ihres Lebens,
die Selbständigkeit ihres Rechtes für ihr kirch-
liches Forum. Die Lehren der Geschichte wie die
Rücksichten der Politik sollten es auch akatholischen
Staatsmännern nahelegen, in der angedeuteten
Richtung der Kirche mit Vertrauen entgegen-
zukommen.
5. Des weiteren wird die Kirche überall, wo
sie nicht proskribiert, d. i. für rechtlos erklärt wor-
den ist, für ihre Institute den gemeinen sowohl
privatrechtlichen als strafrechtlichen Schutz gegen
jedwede Verletzung ihrer Rechte, ihrer Ehre, ihres
Besitzes in Anspruch nehmen.
6. Die Kirche strebte die Anerkennung ihres
ganzen Rechts seitens des Staates auch für dessen
Bereich an. Dieser Rezeption des kirchlichen Rechts
kam das Mittelalter, vorzüglich das Geschlecht der
Karolinger, entgegen; die Bewegung erreichte
ihren Höhepunkt in der Rezeption des römischen
Rechts in dessen durch das kanonische Recht modi-
fizierter Gestalt als gemeines Recht, einem welt-
geschichtlichen Prozeß, welcher langsam, aber stetig
während des 12. bis 15. Jahrh. sich vollzog.
Seither ist die Bewegung eine rückläufige und
verhalten sich die Staaten gegenüber den Be-
Verhältnis zwischen katholischer Kirche und Staat strebungen der Kirche, dem kirchlichen Rechte aus-
fördern: drücklich auch für den weltlichen Rechtsbereich An-
1. Die Selbständigkeit des Staates für dessen erkennung zu gewinnen, meist ablehnend. Dabei
Rechtsbereich ist rückhaltlos anzuerkennen. Staats= ist das Mißverständnis fern zu halten, als ob
und Kirchengewalt, staatliches und kirchliches Ge= eine kirchliche Satzung überhaupt erst durch solche
biet war auseinandergehalten schon im Mittel= staatliche Approbation Rechtens würde, auch
alter, selbst in geistlichen Staaten, und ist heutzu- nur für den kirchlichen Rechtsbereich (s. dagegen
tage notwendig auseinanderzuhalten; jeder Macht
eignet ihr eigenes Rechtsgebiet. Die Lehre, daß
die Staatsgewalt für ihr Gebiet dermalen außer
Gott einen Höheren nicht über sich habe, also
souverän im vollen Sinne des Wortes ist, findet
eine glänzende Bestätigung in dem prägnanten
Satz der Enzyklika Leos XIII. vom 1. Nov. 1885
über die Staatsgewalt: Utraque potestas (Staat
und Kirche) est in suo genere maxima; vgl.
auch die Enzyklika Praeclara vom 20. Juni 1894.
2. Die Kirche ist sich bewußt, eine Stiftung
Christi zu sein, ausgerüstet mit übernatürlichen
Gewalten, eine Anstalt mit eigenem, für ihren
kirchlichen Rechtsbereich allein maßgebendem Recht
(sog. societas perfecta).
3. Das katholische Staatsoberhaupt, selbst der
Kirche Glied, ist dem Rechte der Kirche unter-
worfen (Syllab. 54); dasselbe wird dem Rechte
der Kirche nie widerstreben, vielmehr eine Förde-
rung der kirchlichen Interessen sich nach Möglich-
keit angelegen sein lassen. Dem katholischen Herr-
oben 2 u. 4).
7. Die Kirche hat nie Bedenken getragen, vom
Herrscher ein Mehr des gemeinen Rechtsschutzes
in der Form von Privilegien und Vorrechten an-
zunehmen. Dazu gehörten z. B. Vorrechte der
Prälaten, deren Teilnahme an Staatsräten und
Vertretungskörpern, ausschließliches Recht des
öffentlichen Gottesdienstes, Befreiung von Ge-
richts= und Heerbann, von gewissen Steuern,
andere Immunitäten, Dotation oder Subvention
von Amtern und kirchlichen Anstalten, vor allem
aber die Gewährung weltlicher Macht zur Durch-
führung kirchlicher Ansprüche (brachium saecu-
lare). Obwohl alle diese Rechte im Grunde
öffentlich-rechtlicher Natur sind, betrachtet die
Kirche die einmal ihr verliehenen als wohlerwor-
bene Rechte (sura quaesita), deren Schmälerung
oder Aufhebung sie als ein ihr zugefügtes Unrecht
erklärt.
8. Am status quo der zwischen der Kirche und
einem bestimmten Staatswesen herrschenden Be-