Full text: Staatslexikon. Dritter Band: Kaperei bis Paßwesen. (3)

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besserer Konsequenz wahrt die Theorie einem jeden 
Teile das Recht, über die gemischten Angelegen- 
heiten gesetzlich zu befinden. Dann wird es vom 
Zufall abhängen, ob die beiderseitigen Dispo- 
sitionen sich inhaltlich decken oder den Dualismus 
beider Gewalten in einer dem Prinzip der Koor- 
dination widersprechenden Weise zum Ausdruck 
bringen. Gut gemeint ist die These, daß keine 
Gewalt einseitig in Reglung der gemischten An- 
gelegenheiten vorgehen, sondern jede im Einver- 
ständnisse mit der andern das Geeignete verfügen 
solle. Hier ist zu bemerken, daß die beiden Fak- 
toren nicht immer oder nicht schnell und leicht sich 
vereinigen können und eine höhere Instanz fehlt, 
auftauchende Differenzen definitiv zu schlichten. 
Ein Teil wird immer nachgeben müssen; das wird 
der Theorie nach der Staat, in der Praxis die 
Kirche sein. Auch so wird das Axiom von der 
Koordination beider Gewalten nur zu leicht ad 
absurdum geführt werden. Dazu kommt noch, 
daß im Grunde keist Teil die völlige Gleichord- 
nung des andern Teiles zugeben wird; die Kirche 
wird von ihrer Superiorität dem einzelnen Staat 
wie allen Staaten gegenüber ebenso überzeugt sein, — 
wie ein kräftiger, selbstbewußter Staat unter Um- 
ständen Bedenken tragen wird, sich mit jeder der 
zahlreichen verschiedenen Religionsgenossenschaften, 
welche innerhalb seines Gebietes vertreten sind, 
auf eine Linie zu stellen. Vgl. Martens, Die Be- 
ziehungen der Uberordnung, Nebenordnung und 
Unterordnung zwischen Kirche und Staat (1877)., 
XX. Folgende Sätze dürften unseres Erachtens 
die Lösung der in Rede stehenden Frage nach dem 
  
Kirche und Staat. 
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scher wird als Ideal eine wechselseitige Unter- 
stützung staatlicher und kirchlicher Gewalten zum 
Heile der Untertanen und zur Kräftigung von 
Staat und Kirche vorschweben, eine Verbindung, 
doch keine Vermischung beider Gewalten und 
Gegenstände. 
4. Unter allen Umständen, auch wo der Regent 
nicht Katholik ist, wird die Kirche anstreben die 
Wahrung ihrer Würde, die Freiheit ihres Lebens, 
die Selbständigkeit ihres Rechtes für ihr kirch- 
liches Forum. Die Lehren der Geschichte wie die 
Rücksichten der Politik sollten es auch akatholischen 
Staatsmännern nahelegen, in der angedeuteten 
Richtung der Kirche mit Vertrauen entgegen- 
zukommen. 
5. Des weiteren wird die Kirche überall, wo 
sie nicht proskribiert, d. i. für rechtlos erklärt wor- 
den ist, für ihre Institute den gemeinen sowohl 
privatrechtlichen als strafrechtlichen Schutz gegen 
jedwede Verletzung ihrer Rechte, ihrer Ehre, ihres 
Besitzes in Anspruch nehmen. 
6. Die Kirche strebte die Anerkennung ihres 
ganzen Rechts seitens des Staates auch für dessen 
Bereich an. Dieser Rezeption des kirchlichen Rechts 
kam das Mittelalter, vorzüglich das Geschlecht der 
Karolinger, entgegen; die Bewegung erreichte 
ihren Höhepunkt in der Rezeption des römischen 
Rechts in dessen durch das kanonische Recht modi- 
fizierter Gestalt als gemeines Recht, einem welt- 
geschichtlichen Prozeß, welcher langsam, aber stetig 
während des 12. bis 15. Jahrh. sich vollzog. 
Seither ist die Bewegung eine rückläufige und 
verhalten sich die Staaten gegenüber den Be- 
  
Verhältnis zwischen katholischer Kirche und Staat strebungen der Kirche, dem kirchlichen Rechte aus- 
fördern: drücklich auch für den weltlichen Rechtsbereich An- 
1. Die Selbständigkeit des Staates für dessen erkennung zu gewinnen, meist ablehnend. Dabei 
Rechtsbereich ist rückhaltlos anzuerkennen. Staats= ist das Mißverständnis fern zu halten, als ob 
und Kirchengewalt, staatliches und kirchliches Ge= eine kirchliche Satzung überhaupt erst durch solche 
biet war auseinandergehalten schon im Mittel= staatliche Approbation Rechtens würde, auch 
alter, selbst in geistlichen Staaten, und ist heutzu- nur für den kirchlichen Rechtsbereich (s. dagegen 
tage notwendig auseinanderzuhalten; jeder Macht 
eignet ihr eigenes Rechtsgebiet. Die Lehre, daß 
die Staatsgewalt für ihr Gebiet dermalen außer 
Gott einen Höheren nicht über sich habe, also 
souverän im vollen Sinne des Wortes ist, findet 
eine glänzende Bestätigung in dem prägnanten 
Satz der Enzyklika Leos XIII. vom 1. Nov. 1885 
über die Staatsgewalt: Utraque potestas (Staat 
und Kirche) est in suo genere maxima; vgl. 
auch die Enzyklika Praeclara vom 20. Juni 1894. 
2. Die Kirche ist sich bewußt, eine Stiftung 
Christi zu sein, ausgerüstet mit übernatürlichen 
Gewalten, eine Anstalt mit eigenem, für ihren 
kirchlichen Rechtsbereich allein maßgebendem Recht 
(sog. societas perfecta). 
3. Das katholische Staatsoberhaupt, selbst der 
Kirche Glied, ist dem Rechte der Kirche unter- 
worfen (Syllab. 54); dasselbe wird dem Rechte 
der Kirche nie widerstreben, vielmehr eine Förde- 
rung der kirchlichen Interessen sich nach Möglich- 
keit angelegen sein lassen. Dem katholischen Herr- 
oben 2 u. 4). 
7. Die Kirche hat nie Bedenken getragen, vom 
Herrscher ein Mehr des gemeinen Rechtsschutzes 
in der Form von Privilegien und Vorrechten an- 
zunehmen. Dazu gehörten z. B. Vorrechte der 
Prälaten, deren Teilnahme an Staatsräten und 
Vertretungskörpern, ausschließliches Recht des 
öffentlichen Gottesdienstes, Befreiung von Ge- 
richts= und Heerbann, von gewissen Steuern, 
andere Immunitäten, Dotation oder Subvention 
von Amtern und kirchlichen Anstalten, vor allem 
aber die Gewährung weltlicher Macht zur Durch- 
führung kirchlicher Ansprüche (brachium saecu- 
lare). Obwohl alle diese Rechte im Grunde 
öffentlich-rechtlicher Natur sind, betrachtet die 
Kirche die einmal ihr verliehenen als wohlerwor- 
bene Rechte (sura quaesita), deren Schmälerung 
oder Aufhebung sie als ein ihr zugefügtes Unrecht 
erklärt. 
8. Am status quo der zwischen der Kirche und 
einem bestimmten Staatswesen herrschenden Be-
	        
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