1531
und die Begünstigung und Unterstützung, welche
den panslawistischen Bestrebungen von dort aus
jederzeit zu teil wurden.
Man kann nicht sagen, daß der Panfslawismus
direkt und in offenkundiger Weise von allen rus-
sischen Staatsmännern durchgehends gefördert
worden sei. Eugen v. Novikow (1865/70 Ge-
sandter in Athen, 1870/80 Botschafter in Wien,
1880/82 in Konstantinopel) hielt die Pansla=
wisten für die größten Feinde Rußlands. Sein
erklärter Gesinnungsgenosse war Graf Schuwalow.
In der Hofpartei wurde er mehr oder weniger
unterstützt vom Finanzminister Abasa, vom
Kriegsminister Miljutin und dem General Loris
Melikow. Anderseits waren Koryphäen der rus-
sischen Diplomatie, wie der Kanzler Fürst Gort-
schakow, der russische Botschafter in Konstantinopel
Graf Ignatjew („der Vater der Lüge“), der rus-
sische Gesandte in Bukarest Hitrowo und sehr viele
andere der aufrichtigen Uberzeugung, daß die
„slawophile“, d. h. panfslawistische Politik im
Interesse Rußlands liege, und daß Osterreich,
nötigenfalls durch einen Krieg, gezwungen werden
müsse, eine solche Politik anzunehmen bzw. zu
billigen. Diese Politik hatte nicht nur den weit-
aus größten Teil der Hofpartei, sondern auch fast
die ganze von ihren Organen irregeführte öffent-
liche Meinung hinter sich, und sie wurde außer-
dem durch Gladstone unterstützt (noch anläßlich
seines 100. Geburtstags, 29. Dez. 1909, wurde
er in den Balkanstaaten als der Beschützer der
Balkanvölker gefeiert). Tatsache ist, daß Glad-
stone durch seine bekannten Brandreden (The bul-
garian atrocities) gegen die Türkei, wenngleich
vielleicht unbewußt, die panslawistischen Pläne
förderte. Novikow konstatiert übrigens, daß diese
Haltung Gladstones dem Einfluß seiner Schwä-
gerin Olga v. Novikow zuzuschreiben ist, einer
panslawistischen Agitatorin von großer Schönheit
und hervorragender Begabung, die seine intime
Freundin war. Sehr bezeichnend für diese pansla-
wistischen Ideen sind die Schriften des russischen
Generals Fadejew, der in der 2. Hälfte des
19. Jahrh. bedeutenden Einfluß hatte und auch
außerhalb Rußlands als Autorität auf diesem
Gebiet Weltruf genoß. Er schreibt unter anderem:
„Alles hängt jetzt nur von der Möglichkeit der
Lösung der flawischen Frage ab; entweder breitet
Rußland seine Macht bis zum Adriatischen Meer
aus, oder es tritt von neuem hinter den Dujepr
zurück. Bis heute ging unser Vaterland Schritt
für Schritt in der ihm durch die Tradition ge-
stellten Aufgabe.“ Novikow aber war überzeugt,
daß Rußland, wenn es auf die panflawistischen
Ideen ausginge, sich einer unvermeidlichen Kata-
strophe aussetzen würde. Durch die Eroberung
Konstantinopels und der zu seiner Erhaltung
nötigen Länder würde es wesentliche Interessen
Europas, besonders Osterreichs und Deutschlands,
verletzen und einen Kampf heraufbeschwören, dem
es keinesfalls gewachsen wäre. Dazu komme, daß
Panslawismus.
1532
dann die vielen und gefährlichen innern Feinde
Rußlands mit den äußern gemeinsame Sache
machen würden; eine Insurrektion Kleinrußlands
und Finlands, von Polen gar nicht zu reden,
würde das Verderben des Zarenreichs beschleu-
nigen. — Novikow hat lange genug gelebt, um
an der Rückwirkung der Niederlagen Rußlands
im russisch-japanischen Krieg auf die innern Ver-
hältnisse des Reichs die Richtigkeit seiner Prognose
für den Fall einer Niederlage an den europäüschen
Grenzen bestätigt zu finden. Die Verblendung
der Panslawisten und die Ziele der panslawisti-
schen Politik zeigen sich besonders im dritten orien-
talischen (russisch-rumänisch-türkischen) Krieg (1877
bis 1878). Verleitet durch die Berichte des Bot-
schafters Grafen Ignatjew, traf Rußland Vorberei-
tungen zum Krieg gegen die Türkei, ohne sich der
Neutralität Osterreichs zu versichern, da die Panfla-
wisten die österreichische Heeresmacht nicht beachten
zu müssen glaubten. Als Graf Andrassy dies be-
merkte, begann er Verhandlungen mit der Türkei,
nach denen im Fall eines „Eroberungsfeldzugs"
Rußlands Osterreich-Ungarn und die Türkei sich
zur Abwehr verbinden würden, wozu ersteres
500 000 und letztere 300 000 Mann zu stellen
sich verpflichteten. Nur den eindringlichen Vor-
stellungen Novikows gelang es, dieses Bündnis zu
verhindern und die Begegnung zwischen Kaiser
Franz Joseph und Zar Alexander II. in Reich-
stadt (1876) zu vermitteln, auf welcher der Grund-
stein zu der Konvention zwischen Rußland und
Osterreich-Ungarn gelegt wurde. Bekanntlich ver-
mochte Rußland allein in diesem Krieg die Türkei
nicht niederzuringen und mußte die Hilfe Rumä-
niens anrufen. Im Präliminarfrieden von San
Stefano aber stellte Rußland Forderungen, die
zwar hinter den russischen Vorschlägen vom Jahre
1876 (Zwangsmaßregeln gegen die Türkei, Schaf-
fung Großbulgariens, das aus Ostbulgarien,
Westbulgarien, Bosnien und Makedonien hätte
bestehen sollen) zurückblieben, aber auch in dieser
„abgeschwächten“ Form eine Verwirklichung pan-
slawistischer Ideen im Orient darstellten und die
Existenz der Türkei untergraben mußten. Es
wurde Rußland das Recht zuerkannt, in „Groß-
bulgarien“ russische Garnisonen zu halten und
russische Armeen durch Rumänien frei, nach Be-
lieben, in Bulgarien zu konzentrieren. Nach Art. 8
dieser Friedenspräliminarien hätte eine 50 000
Mann starke russische Armee Bulgarien besetzt ge-
halten. Dieses russische Protektorat sollte offenbar
dem Zarenreich die Wege nach dem Goldenen Horn
ebnen. Allerdings schoben die europäischen Zentral-
mächte den weitausgreifenden russischen Plänen
(in den Bestimmungen des Berliner Kongresses
1878) einen Riegel vor; die englischen Flotten-
rüstungen und die Rüstungen Osterreichs machten
Rußland gefügig. Seitdem hat sich innerhalb
und außerhalb Rußland die Uberzeugung Bahn
gebrochen, daß Rußlands Weg nach Konstan-
tinopel über Wien und auch über Berlin führe.