Full text: Staatslexikon. Dritter Band: Kaperei bis Paßwesen. (3)

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Der Schwerpunkt der orientalischen Frage und 
des mit ihr zusammenhängenden Panslawismus 
liegt heute in Osterreich. 
Wie auf politischem, so ist auch auf religiösem 
Gebiet der Panfslawismus an der wirklichen 
Entwicklung der Dinge gescheitert. Seine reli- 
giösen Ideen konnten den Tatsachen gegenüber 
nicht standhalten. Schon Katharina II. hatte den 
Plan gefaßt, zur Lösung der orientalischen Frage 
in Konstantinopel ein byzantinisches Kalifat zu 
errichten, ein Plan, der die Billigung Josephs II. 
fand. Ein russischer Großfürst war zum künftigen 
Kalifen bestimmt. Dieses Projekt mußte fallen 
gelassen werden, allein es blieb der Anspruch Ruß- 
lands auf das Protektorat über alle Mitglieder 
der griechisch-orthodoxen Kirche. Die Ausübung 
dieses Protektorats zählt zu den politischen Tra- 
ditionen Rußlands und macht einen wesentlichen 
Teil der moskowitischen Expansionsbestrebungen 
aus. Ein bedeutendes Hindernis tritt den Russen im 
Katholizismus, besonders der Polen, entgegen, die 
sich von den kirchlichen Zuständen des großen 
nordischen Reichs wahrlich nicht angezogen fühlen 
können. Die lateinischen Slawen können keine 
Sehnsucht danach haben, mit dem Despotismus, 
wie er vom Zaren und in seinem Namen mit un- 
gleich roherer Faust von den russischen Tschinow= 
niks (Beamten) gehandhabt wird, in nähere Füh- 
lung zu treten. Auch bei den Balkanvölkern hat das 
religiöse russische Protektorat kläglich Schiffbruch 
gelitten. Schon in den Jahren 1858/60 trat ein 
Teil der Bulgaren von der griechisch-orthodoxen 
Kirche zum Katholizismus über, und der Papst 
ernannte (1860) einen unierten bulgarischen Bi- 
schof. Der größte Teil der Bulgaren verblieb aller- 
dings bei der orientalisch-orthodoxen Kirche, ver- 
langte und erhielt jedoch durch Ferman vom 
22. Febr. 1872 die Errichtung eines selbständigen 
bulgarischen Exarchats. Die neue bulgarische 
Kirche unterscheidet sich zwar nicht dogmatisch von 
der orientalisch-orthodoxen, hat jedoch eine andere 
Kirchensprache und eine vollkommen getrennte 
Hierarchie und wurde vom ökumenischen Patri- 
archen am 28. Mai 1872 exkommuniziert. Das 
bulgarische Exarchat strebte nun fortwährend nach 
Errichtung neuer bulgarischer Bistümer in Make- 
donien und erlangte in den Jahren 1894 und 
1897 eine Anzahl neuer bulgarischer Exarchate. 
Im Jahre 1886 verlangten und erhielten die 
lsküper Serben ihrerseits statt des bisherigen 
griechischen einen serbischen Metropoliten; ebenso 
streben sie die Wiedererrichtung des alten ser- 
bischen Patriarchats in Ipek an. Die Fanar- 
kirche in Konstantinopel wird von der russischen 
Kirche als schismatisch bezeichnet, in Griechenland, 
Rumänien und Serbien, ja selbst in Montenegro 
haben die Kirchen sich selbständig gemacht und 
stehen zum großen Teil sowohl mit der russischen 
Kirche als auch untereinander auf gespanntem 
Fuß, während der zisleithanische griechisch-ortho- 
doxe Erzbischof von Zara wieder eine ganz selbst- 
Panslawismus. 
  
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ständige Haltung einnimmt. Ein ökumenisches 
Konzil zur Einigung in den zwischen den ein- 
zelnen Kirchen schwebenden Fragen konnte nicht 
zustande kommen. 
Die Idee des Panslawismus in seinem Hoch- 
gefühl, daß alle Sprossen des slawischen Stammes 
unter russischer Führung sich vereinigen sollten, 
muß als eine barocke Idee des 18. Jahrh. be- 
zeichnet werden, die im 19. Jahrh. keine reale 
Grundlage fand, eine Fiktion, die vor der Wirk- 
lichkeit nicht standhalten konnte. Während die 
Gegner des mächtigen Zaren Nikolaus und dann 
noch die Zeitgenossen Andrassys und Disraelis 
erschauerten, wenn des Panslawismus Erwähnung 
geschah, hat die heutige Generation jede Furcht 
vor den panflawistischen Umtrieben verloren. Die 
Eroberungszüge Rußlands gegen die Türkei (1811, 
1828, 1854 und 1877), ob siegreich oder verlust- 
voll, führten doch immer wieder zur Herausgabe 
der auf dem Balkan gemachten Eroberungen. Im 
Gegensatz zu den panslawistischen Bestrebungen 
haben sich die autonomen Balkanstaaten Griechen- 
land, Rumänien und Serbien mit autokephalen 
Kirchen und selbständigen Kulturkreisen gebildet. 
Selbst die magere Beute aus dem Feldzug von 
187entglitt den Russen; ihr Schmerzenskind Bul- 
garien lehnte sich gegen sie auf, und Fürst Ferdi- 
nand behauptete sich trotz des ihm vom Zaren 
gegebenen Befehls des Thronverzichts. Als Ruß- 
land 1887 den letzten seiner Versuche machte, 
Bulgarien zu unterwerfen und einen russischen 
Fürsten aus dem Haus Dadian von Mingrelien 
daselbst als seinen Vassallen einzusetzen, stellte Graf 
Kälnoky in seinen diplomatischen Noten wie in 
seiner großen, vor den Delegationen gehaltenen 
Rede den Grundsatz auf, daß Osterreich-Ungarn das 
einseitige Protektorat Rußlands über Bulgarien 
unter keinen Umständen zulassen werde. Die Nie- 
derlagen Rußlands in der Mandschurei (1904/05) 
und sein Zurückweichen vor der Drohung eines mit 
Osterreich und Deutschland zu führenden Kriegs 
im Winter auf 1909 haben das Siegel auf diese 
historischen Akten gesetzt. Als Serbien durch seine 
Herausforderungen Osterreich-Ungarn zum Krieg 
reizte, mußte man in Wien erwägen, ob Rußland 
sich stark genug fühlen werde, der Monarchie in 
den Arm zu fallen, mit dem der kleine Nachbar- 
staat gezüchtigt werden sollte. Man zog es vor, 
Osterreich-Ungarn zu beschwichtigen und den Frie- 
den mit dem Golde der Anerkennung der Sou- 
veränität Kaiser Franz Josephs über Bosnien 
und die Hercegovina zu erkaufen. Ob der Spruch 
der Weltgeschichte endgültig ist, ob die russische 
Nation nicht wieder zu einem neuen Schlag aus- 
holen wird — wer möchte darüber eine Prophe- 
zeiung wagen? Tatsache ist, daß die Agitation 
der Panslawisten im Jahre 1910 von neuem 
eingesetzt hat und mit erhöhtem Nachdruck die 
Schaffung eines „Balkanbundes“ anstrebt, um 
der befürchteten Konsolidierung der Türkei zuvor- 
zukommen. Wohl haben sich der Führer der 
  
 
	        
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