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Dummkopf stempeln würde.“ Rieger hat aller-
dings später (1888/90) seinen Panslawismus
öffentlich verleugnet. Die tschechischen Sympathie-
bezeigungen bei Gelegenheit der ethnographischen
Ausstellung in Moskau (1867), die Deputationen,
welche nach Rußland pilgerten, die Petitionen der
Tschechen an den Zar um Begründung einer pan-
slawistischen Universität in Warschau (1867) sind
allgemein bekannte Tatsachen; ebenso die dem Ge-
neral Tschernajeff in Prag dargebrachten Ova-
tionen, die Rede des Generals Komarov in Prag
(1898), die Erklärungen der Tschechenblätter gegen
das deutsch-österreichische Bündnis usw.
In ihren Programmen sprachen die Jungtsche-
chen von „der Gegenseitigkeit mit den andern sla-
wischen Völkern, im vollen Bewußtsein der wichtigen
Stellung des tschechischen Volks als des west-
lichen Zweigs des großen slawischen Stammes“.
In neuerer Zeit ist besonders der Jungtschechen-
führer Kramäk als Förderer einer großslawischen,
„neoflawistisch" genannten Bewegung in den
Vordergund getreten. Der Neoslawismus
strebt angeblich nur eine kulturelle Vereinigung
aller Slawen an. Dabei bleibt die Frage offen,
ob eine solche kulturelle Vereinigung nicht in letzter
Folge zum Altrussentum führen müßte. Im
Winter 1910 unternahm Kramak mehrere Reisen
nach St Petersburg, angeblich um den Beratungen
des Exekutivkomitees des für das Frühjahr 1910
anberaumten altslawischen Kongresses in Sofia
beizuwohnen. Diese Anteilnahme an einem Kon-
greß, der als Demonstration gegen Osterreich ge-
plant ist, berührt um so sonderbarer, als zu gleicher
Zeit von einer diplomatischen Aktion zur Wieder-
anbahnung eines freundlicheren Verhältnisses
zwischen Osterreich-Ungarn und Rußland die Rede
war. — Ubrigens bestehen Gegensätze nationaler
Artselbst zwischen Jungtschechen und Panflawisten.
Im Jahre 1889 entstand eine Polemik zwischen
dem russischen Panflawisten J. Lamansky und dem
Tschechenführer Gregr über den Stammesindivi-
dualismus der West= und Südslawen, und im
Jahre 1910 wurde den Jungtschechen von den
Allslawen Verrat in der bosnischen Frage vorge-
worfen.
Die Polen sind die natürlichen Gegner des
Panslawismus. Als Polen und als Katholiken
stehen sie in Sprache, Schrift und Religion im
Gegensatz zu den panslawistischen Staatsidealen.
Gewitzigt durch ihre Erfahrungen in Rußland
und Preußen haben sie sich in Osterreich als die
beste Stütze der Habsburger Monarchie erwiesen,
obwohl ein Teil der Polen des österreichischen
Abgeordnetenhauses (die „Volkspartei“ unter
Stapinski) zur „flawischen Union“ hinneigt. An
der großen allslawischen Demonstration auf der
slawisch-ethnographischen Ausstellung zu Moskau
nahmen die Polen nicht teil. Allerdings fand im
Juni 1898 in Krakau eine „tschechisch-polnische
Verbrüderung“ statt; ebenso waren Polen auf
dem Sokolfest zu Prag im Juni 1900 anwesend,
Staatslexikon. III. 3. Aufl.
Papiergeld — Papyst.
1538
und nach dem Prager Allslawenkongreß wurden
„Russen, Tschechen und Polen“ von tschechischer
Seite als Brüder proklamiert. Diese „Verbrüde-
rungen“ erwiesen sich jedoch bald als leere Seifen-
blasen, und im Febr. 1910 mußte Kramär selbst
einem Mitarbeiter des Rjetsch in St Petersburg
gestehen, daß an der Sache wieder „viel verdorben“
worden sei. (Er meinte damit das polen= und
katholikenfeindliche Auftreten Rußlands.)
Von welcher Seite man auch die Ergebnisse der
panslawistischen Bestrebungen betrachtet, so kommt
man zu dem Schluß, daß der Panflawismus ein
nebelhaftes Phantasiegebilde ist, halb „Gespenst“
halb „Gespinst“, welches vorläufig nur dazu ge-
dient hat, auf Kosten Rußlands und der pansla-
wistischen Agitatoren eine Anzahl von selbständigen
Balkanstaaten zu schaffen, die von Rußland voll-
kommen unabhängig sind, und eine Reihe von
slawischen Nationalitäten zur Entwicklung zu
bringen, von denen jede einzelne ihren eignen Weg
gehen wird. Daß aber in diesen zum Bewußtsein
ihrer engeren Zusammengehörigkeit gelangten
Volksstämmen tüchtige Kräfte stecken, die nach
Entfaltung streben, wer möchte das bezweifeln?
Eine Koalition all dieser Kräfte gegen die nicht-
slawischen Stämme könnte gewiß für Europa und
besonders für das von so vielen Slawen bewohnte
Osterreich-Ungarn verhängnisvoll werden. Es ist
daher Aufgabe der österreichischen Staatsmänner,
diese Kräfte an sich zu ziehen, sie in die richtigen
Wege zu leiten und sie dem Gesamtinteresse des
Reichs dienstbar zu machen. In diesem Sinne
wird von einer Reihe österreichischer Politiker seit
Jahren die Schaffung eines großösterreichischen
Bundesstaats empfohlen, in welchem alle, also
auch die flawischen Volksstämme, selbständige
Staaten bilden und damit jeden Grund, „über die
Grenze zu schielen“, verlieren würden.
Literatur. P. Dehn, Deutschland nach Osten
(1890); G. Ghikas, Botschafter v. Novikow über
den P. u. die orientalische Frage (1907); v. Sax,
Gesch. des Machtverfalls der Türkei (1908); Aurel
Popovici, Die Ver. Staaten von Groß-Osterreich
(1906); H. Friedjung, Osterreich-Ungarn u. Ruß-
land, in Osterr. Rundschau I/X (1909); Nil Popof,
Gesch. des russ. Protektorats in Serbien (1908).
[Kochs.)
Papiergeld s. Währung.
Papst. [Einsetzung des Primats; Fortdauer;
Wesen; Inhalt; Der Papst als Patriarch, Pri-
mas, Metropolit und Bischof; Die Papstwahl.]
I. Einsetzung des Primats. Das unsicht-
bare Oberhaupt der Kirche ist der im Himmel
thronende Christus (Eph. 1, 22 f. Kol. 1, 18;
3, 15). Da aber die von Christus gestiftete Kirche
nicht bloß eine innerliche und unsichtbare, sondern
auch eine äußere und sichtbare Gesellschaft ist, so
bedarf sie auch eines sichtbaren Oberhaupts, wel-
ches die Stelle Christi auf Erden vertritt. Diese
erste Stelle in der Kirche, die Fülle der Kirchenge-
walt, den Primat, hat Christus dem Apostel
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