Full text: Staatslexikon. Dritter Band: Kaperei bis Paßwesen. (3)

1549 
bleibend an die deutsche Nation gebracht hatten, 
auf das Höchste. Die sächsischen und fränkischen 
Könige und Kaiser besetzten nicht bloß die Bis- 
tümer ihres Reichs, sondern auch wiederholt den 
päpstlichen Stuhl, letzteren immerhin in der Regel 
mit tüchtigen Männern. 
Da war es der ideal gesinnte, energische und 
große Papst Gregor VII., der nach vergeblichen 
Versuchen seiner Vorgänger, getragen von den 
Ideen von Cluny, die Befreiung des Papsttums 
und der Kirche von der staatlichen Gewalt in ent- 
scheidender Weise anbahnte. Von ihm, dem Archi- 
diakon Hildebrand, instigiert, hob Nikolaus II. 
in dem Papstwahldekret „In nomine Domini“ 
des Jahres 1059 die Einwirkung des deutschen 
Königs auf die Papstwahl als diskretionär so gut 
wie vollständig auf. Gregor selbst verbot die 
Laieninvestitur. Und was er angebahnt hatte, das 
führten große Nachfolger, wie Urban II., Pas- 
chalis II., Kalixt II., Innozenz II., Eugen III., 
Alexander III., Innozenz III., Gregor IX., 
Innozenz IV., Bonifaz VIII., konsequent durch. 
Seit Alexanders III. Papstwahlgesetz „Licet de 
vitanda“ vom Jahre 1179 war der Kaiser end- 
gültig von der Besetzung des päpstlichen Stuhls 
ausgeschlossen. Uberhaupt durfte sich jetzt kein Laie 
mehr an der Bischofswahl beteiligen, Kirchenstellen 
besetzen, Synoden berufen, Kleriker richten, kirch- 
liche Personen und Güter besteuern. 
Aber das so auf geistlichem Gebiet selbständig 
gewordene Papsttum dehnte in der Blütezeit des 
Mittelalters seine Macht auch auf das weltliche 
aus. Nach dem Vorgang Gregors VII. bean- 
spruchten die Päpste Innozenz III., Innozenz IV. 
und Bonifaz VIII. jedenfalls eine potestas ec- 
clesiae indirecta in temporalia, b. h. ein Ver- 
fügungsrecht über zeitliche Dinge um geistlicher 
Interessen willen, ratione peccati, wie man im 
Mittelalter sagte. Vielfach wird Bonifaz VIII. 
wegen seiner Bulle „Unam sanctam“ (C. 8, 
Extrav. Comm. I, 8) die Lehre von der potestas 
ecclesiae directa in temporalia zugeschrieben, 
d. h. die Forderung auf Befugnis und Gewalt 
der Kirche über die zeitlichen Dinge schon um der 
zeitlichen Wohlfahrt willen. Zuzugeben ist, daß 
in andern Aussprüchen die Päpste ihrer direkten 
Gewalt in zeitlichen Dingen bestimmteren Aus- 
druck gaben, wobei sie sich mehrfach auf die Do- 
natio Constantini stützten (Potthast, Regesta 
Pontifleum Romanorum ab anno 1198 ad 
annum 1304 (1874 ff] Nr 862, 10 255, 11848; 
C. 17 in VI' de elect. I, 6; C. un. in Clem. 
de jureiur. II, 9). Diese Meinung von der po- 
testas directa des Papstes in temporalia fand 
Unterstützung durch die Tatsache, daß viele Länder 
zum Papst in einem Lehnsverhältnis standen. Auch 
der Schwabenspiegel läßt beide Schwerter, wie 
man nach Luk. 22, 38 die geistliche und die welt- 
liche Gewalt bezeichnete, in der Hand des Papstes 
sein, der dann das weltliche an den Kaiser verlieh. 
Namentlich aber sprachen übereifrige Theoretiker, 
Papst. 
  
1550 
wie Augustinus Triumphus und Alvarus Pela- 
gius, dem Papst als Stellvertreter Christi beide 
Gewalten zu. Doch war diese Auffassung von der 
potestas ecclesiae directa in temporalia nur 
eine vorübergehende Erscheinung und ist aus den 
Zeitverhältnissen zu erklären, wie auch Pius IX. 
bemerkt haben soll (Archiv für katholisches Kirchen- 
recht XXVI 18701] 80; Scherer, Handbuch des 
Kirchenrechts I [18861] 54 A. 14). Prinzipiell 
hat die Lehre von der potestas ecclesiae in- 
directa in temporalia alles für sich. Praktisch 
aber ist unter den heutigen Umständen nur ver- 
wendbar die Lehre von der potestas ecclesiae 
directiva. Diese besteht darin, daß die Kirche 
das Recht und die Pflicht hat, belehrend, mahnend, 
warnend, vorschreibend und strafend die Gewissen 
von Fürsten und Völkern aufzuklären, ihnen ihre 
Pflichten gegen Gott und die Religion vorzuhalten 
und darüber zu entscheiden, was sittlich erlaubt ist 
oder nicht (vgl. d. Art. Kirche und Staat). 
Das Verhältnis von Papsttum und Kaisertum 
näherhin betreffend, so war es seit Innozenz III. 
gemeine Lehre, daß Leo III. das Kaisertum von 
Ostrom auf das Abendland, auf Karl d. Gr. und 
seine Nachfolger übertragen habe. Das Wahlrecht 
der deutschen Kurfürsten galt demgemäß als bloße 
Konzession des Papstes. Diesem stehe die Prüfung 
der Wahl und der Person des Gewählten, bei 
Doppelwahl die Entscheidung zu, und erst durch 
seine Approbation, Weihe und Krönung entstehe 
das kaiserliche Recht (C. 34, X. de elect. I, 6). 
Ihn habe der Kaiser ein iuramentum fidelitatis, 
zum mindesten einen Treueid, wo nicht Lehnseid 
zu schwören (C. un. in Clem. de iureiur. II, 9; 
C. 2 in Clem. de sent. et re ind. II, 11). An 
den Papst als an den Obern devolviere das 
Reichsvikariat im Todesfall oder bei großer 
Pflichtversäumnis des Kaisers (C. un. Extrav. 
oannis XXII. ne sede vac. aliquid innov. tit. 
V). Endlich konnte der Papst Beschwerden gegen 
König und Kaiser von seiten des bedrückten Volks 
oder der bedrückten Kirche des Landes annehmen, 
bei Erfolglosigkeit seiner Vorstellungen sie absetzen 
und die Völker des Treueids entbinden (C. 2 in 
VIe de sent. et re ind. II, 14). 
Diesen guelfischen, päpstlichen Sätzen stand 
charf gegenüber die ghibellinische, kaiserliche Auf- 
fassung vom Verhältnis zwischen Papsttum und 
Kaisertum. Nach ihr sind Kirche und Staat koor- 
diniert, beide von Gott gewollt und geschaffen. 
Von Gott hat der Kaiser sein Schwert durch Wahl 
oder Erbfolge, aber er hat es zum Schut der Kirche 
zu gebrauchen. Von einem Vassallenverhältnis des 
Kaisers zum Papst kann keine Rede sein. Es gibt 
kein päpstliches Prüfungsrecht in der deutschen 
Königswahl, sondern der Gewählte übt sein Recht 
alsbald aus. Salbung und Krönung des Kaisers 
sind nur Solennitäten. Ebensowenig gibt es ein 
päpstliches Reichsvikariat. Aber man ging auch 
kaiserlicherseits weit über die zulässigen Grenzen 
hinaus, und zwar, was wohl zu bemerken ist, 
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