Full text: Staatslexikon. Dritter Band: Kaperei bis Paßwesen. (3)

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an die Kammern zurück und wird, wenn beide 
mit Zweidrittelmajorität ihn wieder annehmen, 
Gesetz, auch ohne die Sanktion des Präsidenten. 
— Die Zweite Kammer hat allein das Recht, 
den Präsidenten, Vizepräsidenten, die Minister, 
Mitglieder des obersten Gerichtshofs und Generale 
wegen schlechter Amtsführung oder Vergehen im 
Amt anzuklagen; Richter ist in diesem Fall der 
Senat, dessen Schuldspruch durch zwei Drittel der 
anwesenden Mitglieder gefällt werden muß. Der 
Präsident der Zweiten Kammer wird von dieser 
selbst gewählt; Präsident des Senats ist der 
Staatsvizepräsident, den im Verhinderungsfall 
ein vom Senat selbst gewählter provisorischer Vor- 
sitzender vertritt. 
Die Exekutivgewalt liegt in den Händen des 
Präsidenten und im Behinderungsfall (Abwesen- 
heit von der Hauptstadt, Verzicht, Tod usw.) in 
denen des Vizepräsidenten, der sie durch die 5 ver- 
antwortlichen Minister ausübt. Das Staatshaupt 
muß 30 Jahre alt, Paraguayer von Geburt und 
Christ sein. Die Wahl erfolgt indirekt auf 4 Jahre, 
eine Wiederwahl ist erst nach einer dazwischen- 
liegenden Amtsperiode gestattet. Jeder Wahl- 
distrikt wählt direkt nach gleichem Recht und glei- 
chen Formen wie für die Volksvertretung einen 
Wahlkörper, der aus der vierfachen Anzahl der 
vom Wahldistrikt in den Kongreß entsandten Ver- 
treter besteht; Deputierte, Senatoren und Staats- 
besoldete können nicht Wähler sein. Diese Wahl- 
körper wählen zur bestimmten Zeit vor Ablauf des 
Amtstermins den Präsidenten und zugleich den 
Vizepräsidenten mit absoluter Majorität; zur 
Gültigkeit der Wahl ist erfordert, daß mindestens 
zwei Drittel der Wahlmänner ihr Wahlrecht aus- 
üben. Ist keine absolute Majorität vorhanden, so 
entscheidet der Kongreß unter den zwei Kandidaten, 
die die meisten Stimmen auf sich vereinigt haben. 
Der Präsident hat die allgemeine Verwaltung des 
Landes, er ernennt die Minister, Beamten, diplo- 
matischen Vertreter usw., die Mitglieder des 
obersten Gerichtshofs (mit Zustimmung des Se- 
nats), die der Untergerichte (mit Zustimmung des 
obersten Gerichtshofs), eröffnet den Kongreß, be- 
ruft ihn in dringenden Fällen zu außerordentlichen 
Tagungen, verfügt über die bewaffnete Macht usw.; 
er darf ohne Einwilligung des Kongresses die 
Hauptstadt nicht verlassen. Seine Verfügungen 
bedürfen der Gegenzeichnung eines der Minister, 
der dadurch die Verantwortlichkeit übernimmt. Für 
die innere Verwaltung ist der Freistaat in 2 Sek- 
tionen eingeteilt; die westliche Sektion (der Chaco) 
steht unter einem Militärkommando, das vom 
Ministerium des Kriegs und der Marine ab- 
hängt, die östliche Sektion zerfällt in 12 Kreise, 
die wieder in 95 Distrikte eingeteilt sind. Die 
Zentralgewalt vertritt im Kreis der Kreishaupt- 
mann (jefe politico), dem ein erster und zweiter 
Sekretär, ein oder mehrere Offiziere und die er- 
forderliche Militärmannschaft zur Aufrechterhal- 
tung der Ordnung beigegeben sind. Jeder Distrikt 
Paraguay. 
  
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hat seinen Distriktsvorsteher zefe departamental) 
mit den erforderlichen Hilfsbeamten. Die Haupt- 
stadt Asunciön zerfällt in Polizeisektionen. — 
Die richterliche Gewalt wird von dem obersten 
Gerichtshof, dessen drei Mitglieder auf vier Jahr 
ernannt werden, und den diesem untergeordneten 
unteren Gerichtshöfen und Friedensrichtern (in 
jedem Distrikt) ausgeübt. Die richterliche Gewalt 
allein kann über Streitfragen entscheiden; die Ver- 
teidigung vor den Gerichtshöfen ist für jeden frei. 
Staatskirche ist die katholische, der fast alle 
Bewohner des Landes angehören; doch ist Frei- 
heit der andern Kulte anerkannt. Der Präsident 
übt mit Zustimmung des Kongresses die Patro- 
natsrechte über die Kirche und das Plazet gegen- 
über den Dekreten der Konzilien, den päpstlichen 
Bullen, Breven und Restkripten. In kirchlicher 
Beziehung bildet Paraguay das 1547 errichtete 
Bistum Asunciön, das unter dem Erzbistum 
Buenos Aires steht und an 60 Weltgeistliche bei 
120 Seelsorgestellen zählt. Über die Zahl der 
Orden und Ordensgeistlichen liegt keine Statistik 
vor. Die protestantischen Deutschen bilden zwei 
Gemeinden (Asunciön und Nueva Germania), 
von denen die erstere im Verband der preußischen 
Landeskirche steht. 
Die Volksbildung ist für südamerikanische 
Verhältnisse verhältnismäßig hoch; die Zahl der 
Analphabeten betrug 1900 in der Hauptstadt 37, 
auf dem Lande 63 % . Offizielle Sprache ist das 
Spanische, das auch von den Guaranis, wenn 
auch mangelhaft, gesprochen wird; doch beherrschen 
an ¼ der Bevölkerung auch die Guaranisprache, 
die selbst in Zeitungen und Büchern öfters an- 
gewandt wird. Der Volksschulunterricht ist obli- 
gatorisch vom 7. bis 12. Lebensjahr und frei; er 
steht unter Leitung eines Schulrats, dessen Präsi- 
dent der Unterrichtsminister ist. 1907 bestanden 
an 330 Volksschulen. Die 5 Mittelschulen, Co- 
legios nacionales, sind den deutschen Gymnasien 
ähnlich; sie werden ganz vom Staat unterhalten, 
ebenso die 2 Normalschulen, die 1690 gegründete 
Universität Asunciön, die Landwirtschaftsschule 
und Versuchsanstalt in Trinidad bei Asunciön, 
die Militärvorbereitungsschule in der Hauptstadt, 
zum Teil auch das 1881 gegründete, unter Auf- 
sicht des Bischofs und Leitung von Lazaristen- 
patres bestehende Seminar Conciliar (zur Aus- 
bildung von Priestern und Lehrern). Deutsche 
Schulen, die aus dem Schulfonds im Etat des 
Auswärtigen Amts des Deutschen Reichs unter- 
stützt werden, gibt es in Asunciön, S. Bernar- 
dino, Altos, Hohenau und Villa Encarnaciön. 
Der Förderung der Wissenschaften und Künste 
dient das vom Staat mit jährlich 12000 Pesos 
subventionierte, durch Beiträge und Schenkungen 
erhaltene Instituto Paraguayo, das in 6 Ab- 
teilungen regelmäßige Lehrkurse abhält und eine 
angesehene Zeitschrift (Revista del Instituto 
Paraguayo) herausgibt. Private Schulen sind 
an 110 vorhanden. Die nationale Presse zählt
	        
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