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berechtigung der Angehörigen der verschiedenen
Religionsgesellschaften. Die Rechtsgleichheit der
anerkannten Religionsgesellschaften ist aber keine
absolute. Wollte der Staat ihnen allen die gleiche
Behandlung angedeihen lassen, so würde das in
Wirklichkeit zu Ungerechtigkeiten führen. Er hat
vielmehr auf die Eigenart und die Verfassung
der einzelnen Religionsgesellschaften Rücksicht zu
nehmen.
Die Parität ist eine der Grundlagen des
modernen Staats. Sie hat erst im Lauf des
19. Jahrh. in den Verfassungen der meisten euro-
päischen Staaten theoretische, nicht überall prak-
tische Anerkennung gefunden. Der alte heidnische
Staat bestrafte jede Nichtanerkennung der Staats-
religion. Daher geriet auch das Christentum bei
seinem Eintritt in das römische Weltreich in Kon-
flikt mit der Staatsgewalt. Das Mailänder Edikt
Konstantins d. Gr. vom Jahre 313 gab dem
Christentum endgültig die Freiheit. Theodosius
d. Gr. machte es im Jahre 392 zur Staats-
religion und verbot den Götterkult unter Strafe.
Das ganze Mittelalter hindurch wurde das römisch-
katholische Christentum als Staatsreligion an-
erkannt. Jeder Abfall vom Glauben galt zugleich
als ein Vergehen gegen die Staatsgesetze und
wurde als solches bestraft. Als die abendländische
Kirchenspaltung im 16. Jahrh. die Christenheit
in zwei feindliche Lager trennte und die Be-
mühungen der katholischen Kaiser, eine Wieder-
vereinigung der Getrennten herbeizuführen, er-
folglos geblieben waren, änderten sich diese Ver-
hältnisse nur insofern, als an die Stelle des all-
umfassenden katholischen Glaubensstaats in den
einzelnen Territorien katholische un d evangelische
Glaubensstaaten traten, die zwar des Strafrechts
in Glaubenssachen verlustig gingen, das Zwangs-
recht (ius reformandi) aber behielten. Der Augs-
burger Religionsfriede (1555) sprach nämlich den
lutherischen Reichsständen die Gleichberech-
tigung mit den katholischen zu, die beiderseitigen
Untertanern sollten aber nicht frei in der Wahl
ihres Bekenntnisses, sondern dem ius reformandi
der Landesherren unterworfen sein; nur in den
reichsfreien Städten sollte keines der beiden Be-
kenntnisse unterdrückt werden dürfen. Der West-
fälische Friede (1648), der die Bestimmungen des
Augsburger Religionsfriedens auch auf die Refor-
mierten ausdehnte und weiter bestimmte, daß die
Reichsbehörden paritätisch besetzt werden sollten,
schuf die Grundlage für die rechtliche Stellung der
Konfessionen im deutschen Reich bis zum Anfang
des 19. Jahrhunderts. Die Anerkennung der
Gleichberechtigung verschiedener Konfessionen, die
im Lauf des 19. Jahrh. fast alle europäischen
Staaten mit konfessionell gemischter Bevölkerung
ausgesprochen haben, ist aufs engste verknüpft
mit dem Umschwung, der sich seit der zweiten
Hälfte des 18. Jahrh. in der Auffassung von
Zweck und Aufgabe des Staats vollzogen hat.
Diestaatsphilosophischen Lehren der Montesquien,
Staatslexikon. III. 3. Aufl.
Parität.
1570
Rousseau usw. hatten, wenn sie sich von der christ-
lichen Auffassung auch sehr weit entfernten, doch
das Gute, daß sie gegenüber staatlicher Willkür
die Ideen der Freiheit und des Rechts wieder
mehr zur Geltung brachten. Seit der französischen
Revolution fanden diese Ideen mehr und mehr
Eingang in den europäüschen Staaten und ver-
halfen allmählich dem Rechtsstaat zum Sieg über
den Polizeistaat. Der Rechtsstaat bietet den natür-
lichen Untergrund für die Parität. Sein Wesen
besteht darin, daß er jeglichem Recht seinen Schutz
gewähren soll. Der Staat hat an sich nicht die
Aufgabe, sich um religiöse Angelegenheiten und
etwaige konfessionelle Unterschiede zu kümmern,
er ist aber verpflichtet, jede der im Staat be-
stehenden Religionsgesellschaften in ihrem Recht
zu schützen und ihr das zu geben, was ihr zu-
kommt, d. h. paritätisch zu verfahren. Zwar kann
auch der Polizeistaat Parität üben, aber er muß
es nicht vermöge seiner Eigenart.
Ein Zeichen des neuen Geistes, der um die
Wende des 18. Jahrh. durch Europa wehte, war
die Aufhebung des ius reformandi durch die
Bestimmung des Reichsdeputationshauptschlusses
vom Jahre 1808, daß die in konfessionell gemischten
Staaten bestehenden Religionsgemeinschaften in
der Religionsübung nicht behindert werden sollten.
Die Rheinbundakte (1806) setzte Katholiken und
Lutheraner in bürgerlicher und staatsbürgerlicher
Beziehung gleich und gewährte ihnen freie Reli-
gionsübung. Art. 16 der deutschen Bundesakte
(1815) gewährte zwar den drei christlichen Bekennt-
nissen die bürgerliche und politische Gleichberech-
tigung, aber nicht die freie Religionsübung. Die
Verfassung des deutschen Reichs von 1849 da-
gegen bestimmte in § 145: „Jeder Deutsche ist
unbeschränkt in der häuslichen und öffentlichen
Ubung seiner Religion“, und in § 146: „Durch
das religiöse Bekenntnis wird der Genuß der
bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte weder
bedingt noch beschränkt.“ Durch das norddeutsche
Bundesgesetz vom 3. Juli 1869 und das Reichs-
gesetz vom 23. April 1871 endlich wurden zwar
alle aus der Verschiedenheit des Religionsbekennt-
nisses hergeleiteten Beschränkungen der bürgerlichen
und staatsbürgerlichen Rechte, aber nicht der freien
öffentlichen Religionsübung aufgehoben.
Im Lauf des 19. Jahrh. gewährten auch die
meisten deutschen Einzelstaaten ihren Staatsbürgern
die verfassungsmäßige Parität. Die bayrische Ver-
fassungsurkunde vom Jahre 1818 bestimmt (Tit.
IV, 9): „Jedem Einwohner des Reichs wird voll-
kommene Gewissensfreiheit gesichert; die einfache
Hausandacht darf daher niemand, zu welcher Re-
ligion er sich bekennen mag, untersagt werden. Die
in dem Königreich bestehenden drei christlichen
Kirchengesellschaften genießen gleiche bürgerliche
und politische Rechte.“ 8§24 der im gleichen Jahre
erlassenen Organischen Artikel erkennt die drei
christlichen Glaubensbekenntnisse als öffentliche
Kirchengesellschaften an. Die württembergische
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