Full text: Staatslexikon. Dritter Band: Kaperei bis Paßwesen. (3)

1571 
Verfassung (1819) bestimmt in 8 27 (nach der 
Revision vom Jahre 1861): „Die staatsbürger- 
lichen Rechte sind unabhängig von dem religiösen 
Bekenntnis.“ Durch § 70 wird jeder der drei im 
Königreich bestehenden christlichen Konfessionen 
freie öffentliche Religionsübung zugesichert. Die 
preußische Verfassung (1850) besagt (Tit. II, 
Art. 12): „Die Freiheit des religiösen Bekennt- 
nisses, der Vereinigung zu Religionsgesellschaften 
und der gemeinsamen häuslichen und öffentlichen 
Religionsübung wird gewährleistet. Der Genuß 
der staatsbürgerlichen Rechte ist unabhängig von 
dem religiösen Bekenntnis."“ 
Allen Staaten des alten Kontinents voran 
ging die nordamerikanische Union mit 
der Durchführung voller Religionsfreiheit. Sie 
nahm diese 1786 in ihre Verfassung auf. Bei der 
in der Union herrschenden ehrlichen und doch 
gegenseitiges Wohlwollen nicht ausschließenden 
Trennung von Kirche und Staat hat keine der 
vielen Religionsgesellschaften Anlaß zur Klage 
über ungerechte und imparitätische Behandlung 
von seiten des Staats. 
Auch in Osterreich kam seit dem Ausgang 
des 18. Jahrh. die staatsbürgerliche Gleichberechti- 
gung der Konfessionen allmählich zum Durchbruch. 
Schon 1781 gestattete Kaiser Joseph II, den Pro- 
testanten die Abhaltung von Privatgottesdienst. 
Heute genießen Katholiken und Protestanten in 
religiöser, bürgerlicher und politischer Beziehung 
die gleichen Rechte. 
In Belgien gewährt die 1831 gegebene Ver- 
fassung jeder Religionsgenossenschaft die selbstän- 
dige Ordnung und Verwaltung ihrer Angelegen- 
heiten. Die Verfassung der Niederlande von 
1848 proklamiert Religionsfreiheit und Gleich- 
berechtigung aller Konfessionen. 
Am längsten zögerten einige protestantische 
Staaten mit der Gewährung der Religionsfreiheit. 
In England, wo nach Einführung der Re- 
formation Gesetze von einer Rigorosität ohne- 
gleichen gegen die Katholiken erlassen worden 
waren, wurden ihnen durch die Gesetze von 1778, 
1791 und 1793 die ersten Erleichterungen ge- 
währt. Die Emanzipationsbill von 1829 und 
eine Reihe späterer Gesetze brachten weitere große 
Fortschritte auf dem Gebiet der staatsbürgerlichen 
Gleichberechtigung. Heute erfreuen sich die Katho- 
liken im Vereinigten Königreich eines großen 
Maßes von Freiheit. Indes gibt es auch jetzt noch 
eine Anzahl imparitätischer und verletzender Be- 
stimmungen, die zum Teil nur deshalb nicht 
drückend empfunden werden, weil sie nur auf dem 
Papier stehen. An das Vorhandensein solcher Be- 
stimmungen wurden die englischen Katholiken noch 
im Jahre 1908 recht deutlich erinnert anläßlich des 
in London abgehaltenen eucharistischen Kongresses, 
wo ihnen auf Grund eines alten, jetzt wieder aus- 
gegrabenen Gesetzes die Abhaltung einer Pro- 
zession untersagt wurde. Für die Katholiken ver- 
letzend ist ferner in hohem Grad die Formel des 
  
  
Parität. 
  
1572 
Krönungseides in ihrem gegen das katholische 
Dogma von der Transsubstantiation gerichteten 
Passus. 
In Schweden und Norwegen wurde durch 
die Gesetze vom 31. Okt. 1873 bzw. 16. Juli 
1845 den Katholiken die Gleichberechtigung mit 
den Protestanten zuerkannt, ebenso in Däne- 
mark durch die Verfassung von 1849. 
Im Deutschen Reich gibt es neben den 
Staaten mit verfassungsmäßiger Parität auch noch 
einige protestantische Staaten, in welchen, obwohl 
die Reichsverfassung den Katholiken bürgerliche 
und politische Gleichberechtigung mit den Pro- 
testanten zusichert, in Ausübung der von diesen 
Staaten beanspruchten Kirchenhoheitsrechte die 
öffentliche Religionsübung der Katholiken durch 
beengende Fesseln unterbunden ist. Hierher ge- 
hören vor allem Sachsen, Braunschweig und 
Mecklenburg. In Sachsen muß beispielsweise 
für jede Neueinrichtung eines Gottesdienstes die 
staatliche Genehmigung eingeholt werden; in 
Braunschweig sind durch die Gesetze von 1902 
und 1908 zwar die schlimmsten Mißstände auf 
kirchenpolitischem Gebiet beseitigt worden, doch 
unterliegt auch heute noch die Feier des Gottes- 
dienstes mancherlei Beschränkungen; in Mecklen- 
burg dürfen Katholiken ebenso wie Reformierte 
und Juden öffentlichen Gottesdienst nur auf 
Grund ausdrücklicher landesherrlicher Erlaubnis 
abhalten. 
Zum Zweck der Beseitigung dieser und aller 
sonst noch bestehenden Einschränkungen der freien 
Religionsübung im Deutschen Reich hat die Zen- 
trumspartei des deutschen Reichstags am 23. Nov. 
1900 in Form eines Gesetzentwurfs einen Antrag, 
den sog. Toleranzantrag, eingebracht, der in 
seinem ersten Teil (§8 1/4) die Religionsfreiheit 
aller Reichsangehörigen, im zweiten Teil (88 5/10) 
die Freiheit der Religionsgesellschaften bei Ord- 
nung ihrer Angelegenheiten festsetzen will. Wäh- 
rend der erste Teil des Antrags vom Reichstag 
angenommen wurde, ohne indes bisher die Zu- 
stimmung des Bundesrats zu finden, stieß der 
zweite Teil auf erheblichen Widerstand, der be- 
sonders von den Verteidigern der staatlichen 
Kirchenhoheit ausging. In der Reichstagssession 
von 1910 hat die Zentrumsfraktion ihren Tole- 
ranzantrag erneut in folgender Form eingebracht: 
„Der Reichstag wolle beschließen, den Herrn 
Reichskanzler zu ersuchen, durch Verhandlungen 
mit den Bundesstaaten dahin zu wirken, daß Be- 
schränkungen der religiösen Freiheit, soweit solche 
bestehen, auf dem Wege der Gesetzgebung besei- 
tigt werden.“ Obwohl der frühere Reichskanzler 
Fürst v. Bülow selbst in einer Rede am 4. Febr. 
1905 diesen Weg gewiesen hatte, wurde der An- 
trag doch in der Sitzung des Reichstags vom 
18. Febr. 1910 mit 160 gegen 150 Stimmen 
bei 8 Stimmenenthaltungen abgelehnt. 
Eine eingehendere Behandlung verdienen die 
Paritätsverhältnisse im größten deutschen Bundes-
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.