Full text: Staatslexikon. Dritter Band: Kaperei bis Paßwesen. (3)

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der Parlamentsmehrheit sein, weswegen denn 
auch das oberste Staatsorgan bei Bildung des 
Ministeriums insoweit gebunden und beschränkt 
ist. Und in der Tat kann auch das Parlament 
durch ein Mißtrauensvotum das Ministerium 
jederzeit zum Rücktritt zwingen. Allein ein 
natürliches Bestreben der Parlamentsmehrheit, 
aus der das Ministerium entnommen ist, selbst 
durch dieses Ministerium am Ruder zu bleiben 
und den dadurch bedingten Einfluß im gesamten 
Leben des Staats zu behalten, wird meistens da- 
hin führen, von dem Mittel eines Mißtrauens- 
votums keinen Gebrauch zu machen, überhaupt 
keine derartige Niederlage des Ministeriums zu 
veranlassen, daß das letztere sich zum Rücktritt ver- 
anlaßt sieht. Dadurch wird aber anderseits dem 
Ministerium eine Stellung geschaffen, die es be- 
fähigt, seinerseits der Parlamentsmehrheit, wenn 
diese sich überhaupt am Ruder halten oder es wenig- 
stens nicht auf einen nicht zu berechnenden Aus- 
gang eines Wahlkampfs ankommen lassen will, 
seinen Willen aufzudrängen. So spitzt sich das 
parlamentarische System im Grunde genommen 
zu einer Oligarchie der im Ministerium oereinigten 
Parteiführer zu. Diese Erscheinung trifft nicht 
allein für England und Nordamerika zu, wo im 
wesentlichen noch zwei große Parteien mit an- 
nähernd gleicher Stärke sich gegenüberstehen, son- 
dern auch für Staaten mit starker Parteizersplit- 
terung, wie z. B. Frankreich und Italien. Der 
Unterschied ist hier in der Hauptsache nur der, daß 
in jenen Staaten die Vorherrschaft eines Mini- 
steriums von bestimmter Parteirichtung durch- 
gängig für die Dauer einer Legislaturperiode be- 
gründet ist, während in diesen Staaten die wech- 
selnden Mehrheiten häufiger einen Sturz der 
Minister veranlassen, damit aber zum Schaden 
des betreffenden Landes eine Unsicherheit in den 
Staatsgeschäften herbeigeführt wird, die, wie in 
dem Art. Konstitutionalismus ausgeführt ist, 
gegenüber diesem letzteren den Unwert des Par- 
lamentarismus feststellen lassen. 
Literatur. Außer auf die in dem Art. Kon- 
stitutionalismus angegebene Literatur mag hier 
nur auf Redlich, Recht u. Technik des englischen P. 
(1905) u. die Besprechungen dieses Werks in den 
Sozialistischen Monatsheften 1906, 570 ff u. in 
den Grenzboten 1906, 488 ff, 554 ff, sowie auf 
Plehn, Der englische P., wie er heute ist, in der 
Deutschen Monatsschrift für das gesamte Leben der 
Gegenwart X (April bis Sept. 1906) 736 ff hin- 
gewiesen sein. [Wellstein.) 
Parteien, politische. LAllgemeines; Par- 
teien im Deutschen Reich; Parteien in Osterreich 
und den übrigen Staaten.) 
I. Allgemeines. Politische Parteien bilden 
sich in allen Staaten, in welchen es ein öffentliches 
Leben gibt. Zusammengeführt werden die Mit- 
glieder einer Partei durch das Bestreben, je nach 
der Verfassung des Staats entweder die Regie- 
rungsgewalt selbst zu erlangen oder wenigstens 
auf die Regierungsführung bestimmend einzu- 
Parteien, 
  
politische. 1584 
wirken. Parteibildungen sind ausgeschlossen in 
solchen Staaten, in welchen die Untertanen keinerlei 
gesetzlichen Anteil an der Leitung der öffentlichen 
Angelegenheiten haben können, wie in der unbe- 
schränkten Monarchie. „In der absoluten Mon- 
archie“, sagt Bornhac (Allgemeine Staatslehre 
[1896] 110), „verkörpert sich die Fülle der 
Staatsgewalt in der Person des Herrschers. Da 
die Monarchie alles für das Volk, nichts durch 
das Volk, sondern durch ihre Behörden tut, so 
kann sie Bestrebungen, einzelnen Interessen der 
Untertanen gegenüber der Regierung selbständig 
Geltung zu verschaffen, nur als ihr feindliche 
ansehen. Die absolute Herrschaft eines einzigen 
ist daher der Tod der Parteien. Sie haben hier 
nicht nur keine rechtliche, sondern nicht einmal eine 
tatsächliche Existenz und Wirksamkeit.“ Die den 
absoluten Herrscher beeinflussenden Günstlinge 
pflegte die Bewegungspartei seit Ferdinand VII. 
von Spanien Camarilla zu nennen. 
Je freier die Bewegung der Bürger im Staat, 
um so reger in der Regel das Parteileben. Die 
Partei braucht keineswegs immer der jeweiligen 
Regierung feindlich gegenüberzustehen, sie wird 
vielmehr, wenn die Regierung im Sinn ihrer 
eignen politischen Anschauungen geführt und mit 
Anhängern ihrer Auffassung besetzt ist, darauf 
aus sein müssen, die Regierung zu stützen und zu 
kräftigen. Nur politischer Unverstand kann die 
Parteien dahin führen, die Regierung an sich 
unmöglich machen zu wollen oder Forderungen zu 
erheben, welche keine geordnete Staatsverwaltung 
zu erfüllen vermag. So schädlich für das Gemein- 
wohl und selbst gefährlich für den Bestand des 
Staats heftige und lang andauernde Parteikämpfe 
werden können, so wenig ist das Parteiwesen an 
sich vom Ubel. Namentlich in Staaten mit Par- 
lamenten ist das Vorhandensein verschiedener Par- 
teien Veranlassung zu eingehender Erörterung 
der Verhandlungsgegenstände und reiflicher Er- 
wägung des Für und Wider der gemachten Vor- 
schläge. Das Maß des Einflusses, welchen die 
Parteien auf die Regierung gewinnen können, 
und der Rücksicht, welche die Regierung auf die 
Parteien zu nehmen hat, ist nach den Verfassungen 
und der tatsächlichen Entwicklung der einzelnen 
Staaten sehr verschieden. Der oft angewandte 
Satz, daß ein wahrer Staatsmann über den 
Parteien stehen müsse, ist nur in beschränktem 
Maß richtig. Ganz entbehren kann kein Staats- 
mann und kein Fürst der Mitwirkung und Unter- 
stützung der Parteien. Je bedeutender die Per- 
sönlichkeit des Fürsten oder des leitenden Staats- 
mannes ist, um so leichter wird er die politischen 
Parteien seiner Politik dienstbar machen; je ge- 
schlossener die Parteien und je hervorragender die 
Führer derselben sind, um so größeren Einfluß 
werden sie auf die Richtung gewinnen, in welcher 
sich die Regierung bewegt. 
II. Deutsches Reich. Die Entwicklung der 
politischen Parteien in Preußen beginnt mit
	        
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