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der Parlamentsmehrheit sein, weswegen denn
auch das oberste Staatsorgan bei Bildung des
Ministeriums insoweit gebunden und beschränkt
ist. Und in der Tat kann auch das Parlament
durch ein Mißtrauensvotum das Ministerium
jederzeit zum Rücktritt zwingen. Allein ein
natürliches Bestreben der Parlamentsmehrheit,
aus der das Ministerium entnommen ist, selbst
durch dieses Ministerium am Ruder zu bleiben
und den dadurch bedingten Einfluß im gesamten
Leben des Staats zu behalten, wird meistens da-
hin führen, von dem Mittel eines Mißtrauens-
votums keinen Gebrauch zu machen, überhaupt
keine derartige Niederlage des Ministeriums zu
veranlassen, daß das letztere sich zum Rücktritt ver-
anlaßt sieht. Dadurch wird aber anderseits dem
Ministerium eine Stellung geschaffen, die es be-
fähigt, seinerseits der Parlamentsmehrheit, wenn
diese sich überhaupt am Ruder halten oder es wenig-
stens nicht auf einen nicht zu berechnenden Aus-
gang eines Wahlkampfs ankommen lassen will,
seinen Willen aufzudrängen. So spitzt sich das
parlamentarische System im Grunde genommen
zu einer Oligarchie der im Ministerium oereinigten
Parteiführer zu. Diese Erscheinung trifft nicht
allein für England und Nordamerika zu, wo im
wesentlichen noch zwei große Parteien mit an-
nähernd gleicher Stärke sich gegenüberstehen, son-
dern auch für Staaten mit starker Parteizersplit-
terung, wie z. B. Frankreich und Italien. Der
Unterschied ist hier in der Hauptsache nur der, daß
in jenen Staaten die Vorherrschaft eines Mini-
steriums von bestimmter Parteirichtung durch-
gängig für die Dauer einer Legislaturperiode be-
gründet ist, während in diesen Staaten die wech-
selnden Mehrheiten häufiger einen Sturz der
Minister veranlassen, damit aber zum Schaden
des betreffenden Landes eine Unsicherheit in den
Staatsgeschäften herbeigeführt wird, die, wie in
dem Art. Konstitutionalismus ausgeführt ist,
gegenüber diesem letzteren den Unwert des Par-
lamentarismus feststellen lassen.
Literatur. Außer auf die in dem Art. Kon-
stitutionalismus angegebene Literatur mag hier
nur auf Redlich, Recht u. Technik des englischen P.
(1905) u. die Besprechungen dieses Werks in den
Sozialistischen Monatsheften 1906, 570 ff u. in
den Grenzboten 1906, 488 ff, 554 ff, sowie auf
Plehn, Der englische P., wie er heute ist, in der
Deutschen Monatsschrift für das gesamte Leben der
Gegenwart X (April bis Sept. 1906) 736 ff hin-
gewiesen sein. [Wellstein.)
Parteien, politische. LAllgemeines; Par-
teien im Deutschen Reich; Parteien in Osterreich
und den übrigen Staaten.)
I. Allgemeines. Politische Parteien bilden
sich in allen Staaten, in welchen es ein öffentliches
Leben gibt. Zusammengeführt werden die Mit-
glieder einer Partei durch das Bestreben, je nach
der Verfassung des Staats entweder die Regie-
rungsgewalt selbst zu erlangen oder wenigstens
auf die Regierungsführung bestimmend einzu-
Parteien,
politische. 1584
wirken. Parteibildungen sind ausgeschlossen in
solchen Staaten, in welchen die Untertanen keinerlei
gesetzlichen Anteil an der Leitung der öffentlichen
Angelegenheiten haben können, wie in der unbe-
schränkten Monarchie. „In der absoluten Mon-
archie“, sagt Bornhac (Allgemeine Staatslehre
[1896] 110), „verkörpert sich die Fülle der
Staatsgewalt in der Person des Herrschers. Da
die Monarchie alles für das Volk, nichts durch
das Volk, sondern durch ihre Behörden tut, so
kann sie Bestrebungen, einzelnen Interessen der
Untertanen gegenüber der Regierung selbständig
Geltung zu verschaffen, nur als ihr feindliche
ansehen. Die absolute Herrschaft eines einzigen
ist daher der Tod der Parteien. Sie haben hier
nicht nur keine rechtliche, sondern nicht einmal eine
tatsächliche Existenz und Wirksamkeit.“ Die den
absoluten Herrscher beeinflussenden Günstlinge
pflegte die Bewegungspartei seit Ferdinand VII.
von Spanien Camarilla zu nennen.
Je freier die Bewegung der Bürger im Staat,
um so reger in der Regel das Parteileben. Die
Partei braucht keineswegs immer der jeweiligen
Regierung feindlich gegenüberzustehen, sie wird
vielmehr, wenn die Regierung im Sinn ihrer
eignen politischen Anschauungen geführt und mit
Anhängern ihrer Auffassung besetzt ist, darauf
aus sein müssen, die Regierung zu stützen und zu
kräftigen. Nur politischer Unverstand kann die
Parteien dahin führen, die Regierung an sich
unmöglich machen zu wollen oder Forderungen zu
erheben, welche keine geordnete Staatsverwaltung
zu erfüllen vermag. So schädlich für das Gemein-
wohl und selbst gefährlich für den Bestand des
Staats heftige und lang andauernde Parteikämpfe
werden können, so wenig ist das Parteiwesen an
sich vom Ubel. Namentlich in Staaten mit Par-
lamenten ist das Vorhandensein verschiedener Par-
teien Veranlassung zu eingehender Erörterung
der Verhandlungsgegenstände und reiflicher Er-
wägung des Für und Wider der gemachten Vor-
schläge. Das Maß des Einflusses, welchen die
Parteien auf die Regierung gewinnen können,
und der Rücksicht, welche die Regierung auf die
Parteien zu nehmen hat, ist nach den Verfassungen
und der tatsächlichen Entwicklung der einzelnen
Staaten sehr verschieden. Der oft angewandte
Satz, daß ein wahrer Staatsmann über den
Parteien stehen müsse, ist nur in beschränktem
Maß richtig. Ganz entbehren kann kein Staats-
mann und kein Fürst der Mitwirkung und Unter-
stützung der Parteien. Je bedeutender die Per-
sönlichkeit des Fürsten oder des leitenden Staats-
mannes ist, um so leichter wird er die politischen
Parteien seiner Politik dienstbar machen; je ge-
schlossener die Parteien und je hervorragender die
Führer derselben sind, um so größeren Einfluß
werden sie auf die Richtung gewinnen, in welcher
sich die Regierung bewegt.
II. Deutsches Reich. Die Entwicklung der
politischen Parteien in Preußen beginnt mit