1587
Ausschluß Osterreichs erstrebte und der den Sam-
melpunkt altliberaler und demokratischer Elemente
bildete.
Die Unzufriedenheit mit der Führung der alt-
liberalen Kammermehrheit, die es nicht verstand,
liberale Parteierfolge zu erzielen, führte im Jahre
1861 zur Gründung der deutschen Fort-
schrittspartei. Die erste Anregung ging von
ostpreußischen Mitgliedern (v. Forckenbeck, v. Hover-
beck usw.) der altliberalen Partei aus — spott-
weise „Junglitauen“ genannt. Eltwa 30 Un-
zufriedene vereinigten sich mit ehemaligen Demo-
kraten und veröffentlichten am 9. Juni 1861 ein
unter anderem von v. Forckenbeck, v. Hoverbeck,
Schulze-Delitzsch, Virchow, v. Unruh, Dr Langer-
hans, Mommsen unterzeichnetes Programm, in
welchem sie sich für Einigung Deutschlands unter
Führung Preußens, Ausgestaltung der Verfas-
sung, Freihandel, Trennung von Kirche und
Staat und für die Zivilehe aussprachen. Nach
den Wahlen vom 9. Dez. 1861 zählte man
109 Abgeordnete der deutschen Fortschrittspartei,
zu denen aber noch die 52 Abgeordneten des
linken Zentrums, die mit der Fortschrittspartei
zusammengingen, hinzuzurechnen waren. Infolge
des Konflikts, der im Jahre 1862 zwischen Re-
gierung und Kammermehrheit wegen der Heeres-
reorganisation ausbrach, wurde das Abgeordneten-
haus zweimal, im Frühjahr 1862 und im Herbst
1863, aufgelöst, mit dem Erfolg, daß Fortschritts-
partei und linkes Zentrum nach der ersten Auf-
lösung die absolute Mehrheit erlangten und die-
selbe bis 1866 behaupteten. Die Linke gewann
1862: 242 (Konservative 12) und 1863: 253
(Konservative 38) von 352 Mandaten. Die
Wahlen am Tage von Königgrätz ließen indes
den Gegensatz erkennen, in welchen die Liberalen
durch den Widerspruch der meisten ihrer Mit-
glieder gegen den deutsch-österreichischen Krieg und
gegen die durch ihre Erfolge populär gewordene
Politik Bismarcks mit dem Empfinden ihrer alten
Anhänger geraten waren. Sie verloren fast die
Hälfte ihrer Mandate, während die Rechte 100 Sitze
gewann.
Die Ereignisse des Jahres 1866 führten zur
Bildung zweier neuer Parteien, der National-=
liberalen und der Freikonservativen. Als Bis-
marck 1866 für die budgetlose Regierung der
letzten vier Jahre die Indemnität nachsuchte,
stimmten auch die meisten Abgeordneten der bis-
herigen liberalen Opposition dafür. Die Mei-
nungsverschiedenheiten innerhalb der liberalen
Parteien führten zum Ausscheiden der regierungs-
freundlichen Abgeordneten. Diese gründeten am
17. Nov. 1866 die „neue Fraktion der natio-
nalen Partei“, die sich zu Anfang des folgenden
Jahres im Norddeutschen Reichstug als „natio-
nalliberale Fraktion" konstituierte. Zu
ihren Gründern gehörten Lasker, Michaelis,
Twesten, v. Unruh, v. Forckenbeck. Eine Sezes-
sion mit dem gleichen Ziel der Überbrückung der
Parteien,
politische. 1588
alten Gegensätze zwischen links und rechts vollzog
sich auf der Rechten. Hier bildete sich die frei-
konservative Partei, die in einer program-
matischen Erklärung als Hauptaufgaben der kon-
servativen Partei die rückhaltlose Anerkennung
der Verfassung und die Förderung der deutschen
Einigung bezeichnete. Die beiden neuen Frak-
tionen, Nationalliberale und Freikonservative,
zählten in dem 1866 gewählten Landtag 26 bzw.
19 Mitglieder. Das anfänglich verträgliche Ver-
hältnis zwischen Fortschrittspartei und National-
liberalen ging schon bei der Beratung der Ver-
fassung des Norddeutschen Bundes in scharfe
Gegensätzlichkeit über. Später hat sich dieser
Gegensatz immer mehr verschärft, da die Natio-
nalliberalen möglichst mit der Regierung sich zu
verständigen suchten, während die Fortschritts-
partei in der Opposition gegen die Regierung und
namentlich gegen das Haupt derselben, den Fürsten
Bismarck, blieb.
Mit dem Jahre 1866 ist die Entwicklung der
Parteien aus sich heraus zu einem gewissen Ab-
schluß gelangt; die später hervorgetretenen großen
Parteien, Zentrum und Sozialdemokratie, sind
nicht wie die vorgenannten auf dem Boden kon-
servativer oder liberaler Grundanschauung und
nicht durch parlamentarische Sezessionen, sondern
mit eignem politischen Ideenkreis aus dem Volk
heraus entstanden. Die Parteiverhältnisse, wie sie
sich im Jahre 1866 darstellen, sind auch ent-
scheidend gewesen für die Parteibildung im Nord-
deutschen Bund und im Deutschen Reich. Im
Norddeutschen Reichstag von 1867 und in na-
türlicher Entwicklung auch im ersten deutschen
Reichstag vom Jahre 1871 gab es eine konser-
vative, eine freikonservative, eine nationalliberale
und eine fortschrittliche Fraktion. Daneben be-
standen noch eine Anzahl kleinerer Gruppen, die
aber bald wieder verschwanden. Die folgende Be-
trachtung der Entwicklung der einzelnen Parteien
seit 1867 und ihrer Programme kann bei der auch
auf dem Gebiet des Parteiwesens bestehenden engen
Verbindung zwischen dem Reich und Preußen
für beide staatliche Organisationen eine gemein-
same sein. .
Das charakteristische Merkmal der deutsch-
konservativen Partei ist die starke Be-
tonung des Autoritätsgedankens. Sie hat sich
nur schwer mit dem Konstitutionalismus befreun-
den können; in der Reaktionsperiode (s. oben)
suchte sie die neuerworbenen Volksrechte möglichst
zurückzuschrauben. In dem programmatischen
Aufruf an die Deutsch-Konservativen von 1876
und in dem im Jahre 1892 beschlossenen, noch
heute für die Partei maßgebenden Tivoliprogramm
erklärt sie sich zwar mit einer wirksamen Betei-
ligung des Volks an der Gesetzgebung einver-
standen, aber auch heute noch betont sie mit Vor-
liebe die Notwendigkeit eines starken Königtums
und wendet sich entschieden gegen jede Vermehrung
des politischen Einflusses des Volks. Die konserva-