1589
tive Partei, auch die des Reichstags, war bis zum
Jahr 1876 eine ausgesprochen preußische Partei.
Als solche war sie lange Jahre eine Gegnerin des
„Aufgehens“ Preußens im Reich. Auch nach den
großen Erfolgen der Bismarckschen Politik machte
ein Teil der Konservativen die Entwicklung nur
widerwillig mit. Der Gegensatz zu Bismarck,
dem ehemaligen Parteigenossen, der im Lauf der
Jahre sich auch auf dem Gebiet der Kirchenpolitik
(Schulausfsichtsgesetz, Maigesetze) und der innern
Verwaltung herausbildete, führte im Jahre 1873
zu einer Spaltung in Alt= und Neukonservative.
Während die Altkonservativen an den alt-
preußischen Traditionen und besonders an ihren
der Politik der Regierung zuwiderlaufenden
kirchenpolitischen Grundsätzen festhielten, schlossen
sich die Neukonservativen der Bismarckschen
Politik an. Die Wiedervereinigung im Abgeord-
netenhaus und die Konstituierung der deutsch-
konservativen Partei im Reichstag erfolgte auf
Grund des Programms von 1876. Das Be-
kenntnis zum Christentum, welches in letzterem
enthalten ist, bestimmt die Haltung der Konser-
vativen besonders in kirchenpolitischen Fragen.
Die Partei tritt ein für die konfessionelle Schule
und lehnt Eingriffe der Staatsgewalt in das
innerkirchliche Leben ab. Den Kulturkampf machte
die Partei zum Teil nicht mit, hauptsächlich be-
stimmt durch die gleichzeitige Schädigung der
evangelischen Kirche, deren Interessen sie vorzugs-
weise zu vertreten sucht. In der Reaktionsperiode
vertrat sie, wie oben bemerkt wurde, auch durch
die Tat die Theorie vom „evangelischen Staat
Preußen“. Die heutige konservative Partei, die
ihre Anhänger hauptsächlich in den ländlichen
Bezirken östlich der Elbe hat und im Parlament
vorzugsweise durch adlige Großgrundbesitzer und
Beamte vertreten ist, zählt neben unbedingten An-
hängern der Regierung eine größere Anzahl Mit-
glieder, welche die Interessen der Landwirtschaft
und besonders des altpreußischen Großgrund-
besitzes mit großer Entschiedenheit und einer ge-
wissen Einseitigkeit vertreten, besonders seit der
im Jahre 1893 erfolgten Gründung des Bundes
der Landwirte. In erster Linie in landwirtschaft-
lichem Interesse tritt die Partei für hohe Schutz-
zölle ein. In der Sozialpolitik macht sich die
starke Betonung des Autoritätsgedankens beson-
ders geltend. Wo es sich um Sicherung der Ar-
beiterrechte handelt, nimmt die Partei eine sehr
reservierte Haltung ein, weil sie davon eine Stär-
kung der Sozialdemokratie befürchtet; letztere sucht
sie nicht so sehr durch soziale Reformen als viel-
mehr mit den Machtmitteln des Staats zu be-
keimpfen. Dem Mittelstand steht sie freundlich
und fördernd gegenüber. Im übrigen hat die
Partei in der Sozialpolitik eine sich nicht immer
gleich bleibende Haltung beobachtet. In den
1880er Jahren wurde ihre Politik stark beein-
flußt durch die innerhalb der konservativen Partei
und Fraktion bestehende christlich-soziale Gruppe.
Parteien,
politische. 1590
Seit deren Ausscheiden im Jahre 1895 ist die Rei-
gung zu sozialreformerischen Maßnahmen, soweit
der Arbeiterstand in Betracht kommt, geringer
geworden. Die numerische Stärke der konser-
vativen Partei des Abgeordnetenhauses hat seit
Beilegung des Konflikts mit der Regierung im
Jahre 1876 ständig zugenommen. Sie zählte
1889: 125, 1893: 144, 1898: 144, 1903:
144, 1908: 152 Mitglieder. Seit dem Jahre
1878 stellte die konservative Partei den Präsi-
denten des Abgeordnetenhauses in der Person
v. Köllers und seit 1898 v. Kröchers. Im Reichs-
tag betrug die Stärke der konservativen Fraktion
1881: 50, 1884: 77, 1887: 79, 1890: 73,
1893: 67, 1898: 53, 1903: 52, 1907: 58.
Die auf ihre Kandidaten gefallene Stimmenzahl
betrug 1907: 1543 200, 1903: 1296 800.
Die christlich-soziale Partei, die bis
1895 als eine besondere Gruppe innerhalb der
konservativen Partei bestand, ist im Jahre 1878
unter Führung des Hofpredigers Adolf Stöcker
ins Leben getreten. Die Widerstände, die Stöcker
bei seinen Bestrebungen auf geistige und materielle
Hebung des Arbeiterstands innerhalb der kon-
servativen Partei entgegentraten, und eine gewisse
Einseitigkeit und Schroffheit in der Vertretung
seines Standpunkts führten im Jahre 1895 zur
Spaltung und zur Bildung der besondern christ-
lich-sozialen Partei. Das Programm der Partei
verlangt friedliche Organisation der Arbeiter, um
in Gemeinschaft mit den andern Faktoren des
Staatslebens die notwendigen Reformen d#zu-
bahnen, und tritt für weitgehende gesetzliche Maß-
nahmen zum Schutz der Arbeiter ein. Größere Be-
deutung hat die zurzeit im Reichstag 3 Abgeordnete
zählende Partei, die anfangs nur in Berlin einen
lebhaften Kampf gegen Liberalismus und Sozial-
demokratie führte und die ihre Anhänger meist
unter der evangelischen Arbeiterschaft im Wupper-
tal, in Westfalen und in Sachsen hat, bisher nicht
erlangt, zum Teil infolge der Mißbilligung, welche
die soziale Betätigung der Geistlichen an maß-
gebender Stelle fand.
Von der christlich-sozialen Partei trennte sich
im Jahre 1896 unter Führung von Naumann
und v. Gerlach eine linksstehende Gruppe und bil-
dete den nationalsozialen Verein, der
sich durch starke Betonung des sozialen und des
demokratisch-politischen Elements hervortat und
stark zur Sozialdemokratie hinneigte. Er ging im
Jahre 1902 eine Fusion mit der freisinnigen Ver-
einigung ein.
Besondere regionale Verhältnisse, vor allem des
wirtschaftlichen Lebens, führten in den 1880er
Jahren zur Bildung ausgesprochen antisemiti-
scher Parteien. Zurzeit vertreten im deutschen
Reichstag den Antisemitismus die deutsche
Reformpartei mit 4 Mitgliedern und die
Deutsch-Sozialen unter Liebermann
v. Sonnenberg, die sich im Jahre 1903 mit den
Christlich-Sozialen, mit Mitgliedern des Bundes