Full text: Staatslexikon. Dritter Band: Kaperei bis Paßwesen. (3)

1591 
der Landwirte und des Bauernbundes zur wirt- 
schaftlichen Vereinigung zusammenschlos- 
sen. Die dieser Vereinigung angehörenden kleinen 
Parteigruppen haben wirtschafts= und kirchen- 
politisch manche Berührungspunkte mit den Kon- 
servativen. Gleich ihnen treten sie energisch für den 
Mittelstand ein, fordern jedoch im Gegensatz zu 
ihnen auch sozialpolitische Maßnahmen im Inter- 
esse des Arbeiterstands. 
Die nationalliberale Partei hat im 
ersten Jahrzehnt ihres Bestehens in Preußen und 
im Reich großen Einfluß ausgeübt. Sie unter- 
stützte Bismarck beim ersten Ausbau des neuen 
Deutschen Reichs. Während der deutschen Ein- 
heitsbestrebungen von 1870 sowohl wie in ihrer 
ganzen späteren Geschichte tritt bei der national- 
liberalen Partei eine stark unitaristische, auf mög- 
lichste Beschränkung der Rechte der Einzelstaaten 
hinzielende Tendenz hervor. Nach ihrer Loslösung 
von der Fortschrittspartei stellte sie als Grundsatz 
ihrer Politik auf: in Fragen der äußern Politik 
Unterstützung der Regierung, in der innern Politik 
entschiedene Vertretung der liberalen Ideen. Im 
Gegensatz zu diesem Programm hat sich die Partei 
von jeher auf politischem und wirtschaftlichem 
Gebiet stark von opportunistischen Erwägungen 
leiten lassen und die jeweilige Regierungspolitik 
eifrig unterstützt. Im Jahre 1879 wurde die Partei 
in der wichtigen Frage der Neugestaltung unseres 
Finanz= und Wirtschaftslebens in die Opposition 
gedrängt. Im Jahre 1880 schied eine Gruppe 
linksstehender Abgeordneter (Rickert, v. Stauffen- 
berg, v. Forckenbeck, Bamberger) aus der Fraktion 
aus und bildete die liberale Vereinigung; 
aus ihrer Verschmelzung mit der Fortschrittspartei 
ging 1884 die freisinnige Partei hervor. 
Nach dieser Sezession nahm die Partei eine mehr 
nach rechts gehende Entwicklung. Dieselbe kam 
deutlich in der unter Miquels Einfluß zustande 
gekommenen Heidelberger Erklärung vom 23. März 
1884 zum Ausdruck, durch welche die Partei ihren 
Anschluß an die Regierungspolitik wieder voll- 
ständig herstellte. Auf kirchenpolitischem Gebiet 
ist die Partei die eifrigste Verfechterin der Ober- 
herrschaft des Staats über die Kirche. Das im 
Jahre 1881 aufgestellte Programm betont zwar 
die große Bedeutung des kirchlichen Lebens für 
unser Volk, doch ist die Partei jedem positiven 
Bekenntnis, besonders dem Katholizismus, abge- 
neigt. Unter ihrer eifrigen Mitwirkung und viel- 
fach auf ihr Drängen kamen die kirchenpolitischen 
Gesetze der 1870er Jahre (Maigesetze) zustande, 
welche zu dem schweren Konflikt mit der katho- 
lischen Kirche und den preußischen Katholiken (dem 
sog. Kulturkampf) führten. Auch auf reichsgesetz- 
lichem Gebiet war sie die Trägerin des Kultur- 
kampfs. Die meisten ihrer Mitglieder sind An- 
hänger der Simultanschule. Auf dem wirtschaft- 
lichen Gebiet tritt die Partei für Schutzzölle ein. 
In sozialen Fragen teilt sich die Partei in zwei 
Richtungen: die eine, die besonders in der natio- 
Parteien, 
  
politische. 1592 
nalliberalen Fraktion des Abgeordnetenhauses zu 
Worte kommt und ihren Rückhalt an der in der 
Partei stark vertretenen Großindustrie hat, setzt 
sozialpolitischen Naßnahmen Widerstand entgegen; 
die andere, die in der Reichstagsfraktion überwiegt, 
hat bei der sozialpolitischen Gesetzgebung zugunsten 
des Arbeiter- und Mittelstands nach Uberwindung 
der anfänglichen Abneigung tatkräftig mitgewirkt. 
Auch in Fragen der politischen Freiheit, wie in der 
Wahlrechtsfrage, ist die nationalliberale Partei 
nicht einig. Zu einem großen Teil ist sie Gegnerin 
des Reichstagswahlrechts; die nationalliberale 
Fraktion des Abgeordnetenhauses hat sich offen 
dagegen ausgesprochen und verlangt ein Plural-= 
wahlrecht. Eine seit etwa einem Jahrzehnt in der 
nationalliberalen Partei hervortretende Jugend- 
bewegung, der Jungliberalismus, hat sich 
fast zu einer eignen Partei entwickelt. Sie charak- 
terisiert sich durch eine schärfere Betonung des 
Liberalismus, durch demokratische und kultur- 
kämpferische Neigungen und durch eine freund- 
lichere Haltung gegenüber der Sozialdemokratie. 
Ihre größte Stärke besaß die nationalliberale 
Partei in den 1870er Jahren. In der Legislatur- 
periode 1870/77 wurde sie im preußischen Ab- 
geordnetenhaus 182 Mitglieder stark, so daß sie 
unter Laskers, v. Bennigsens und Migquels Lei- 
tung das Abgeordnetenhaus beherrschte. Nach Be- 
endigung bzw. Milderung des kirchenpolitischen 
Konflikts verlor die Partei ihre unbedingt aus- 
schlaggebende Stellung. Der Mangel an innerer 
Geschlossenheit, ihre schwankende und vielfach dem 
Empfinden des Volks widersprechende Politik sind 
die Ursachen des Niedergangs der nationalliberalen 
Partei. Sie behauptet sich seit den 1880er Jahren 
im preußischen Abgeordnetenhaus in einer durch- 
schnittlichen Stärke von 70 bis 80 Mitgliedern. 
Größeren Schwankungen war ihre Mandatsziffer 
im Reichstag unterworfen. Während sie hier im 
Jahre 1874: 152 Abgeordnete zählte, sank sie bei 
den folgenden Wahlen ständig, 1881 von 98 auf 
45, um 1887 (Septennatswahlen) auf 99 empor- 
zuschnellen. Schon drei Jahre später sank sie aber 
wieder auf 42. Sie verfügt seitdem über durch- 
schnittlich 50/60 Mandate. Im preußischen Ab- 
geordnetenhaus zählt sie in der Legislaturperiode 
1908/13: 64 Mitglieder (1903/08: 76), im 
Reichstag 1907/12;: 53 (1903/07: 51) Mit- 
glieder. Ihre Stimmenzahl bei den letzten Reichs- 
tagswahlen betrug 1743 700 (1323700). 
Die freikonservative Partei nimmt 
eine Mittelstellung zwischen Konservativen und 
Nationalliberalen ein. Besonders in den 1870er 
Jahren war sie die eigentliche Regierungspartei, 
welche nahezu in allen Fragen dem Fürsten Bis- 
marck unbedingte Heeresfolge leistete. Auch später 
hat sie aus Grundsatz stets eine regierungsfreund- 
liche Haltung beobachtet. Aus ihr wurde eine 
größere Anzahl Minister entnommen. Seit meh- 
reren Legislaturperioden behauptet sich die frei- 
konservative Partei im Abgeordnetenhaus in der
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.