Full text: Staatslexikon. Dritter Band: Kaperei bis Paßwesen. (3)

1593 
Stärke von etwa 60 Mitgliedern; im Reichstag, 
wo sie den Namen Reichspartei trägt, schwankt 
sie zwischen 20 und 30 Mitgliedern; zurzeit hat 
sie deren 22. Von allen politischen Parteien läßt 
sich die freikonservative Partei wohl am meisten von 
staatskirchlichen Ideen leiten. Während sie in 
den meisten politischen und wirtschaftspolitischen 
Fragen mit den Konservativen zusammengeht, hat 
sie in der Frage des den christlich-konfessionellen 
Charakter der Volksschule sichernden Zedlitzschen 
Volksschulgesetzes von den Konservativen sich ge- 
trennt und mit den mehr linksgerichteten Fraktionen 
gemeinsame Sache gemacht. In ihrem Programm 
spricht sich die Partei für Fortführung der So- 
zialpolitik aus, im Parlament aber motivierte sie 
ihre durchweg ablehnende Haltung mit der Rück- 
sicht auf die Industrie und mit der Notwendigkeit 
des Kampfs gegen die Sozialdemokratie. 
Die Fortschrittspartei bestand unter diesem 
Namen bis zum Jahre 1884. Damals verband 
sie sich mit der „liberalen Vereinigung“ (s. oben) 
zur „deutsch-freisinnigen Partei". Im 
Jahre 1893 spaltete sie sich bei der Abstimmung 
über die Militärvorlage, und die Folge war end- 
gültige Trennung in zwei Parteien. Die Anhänger 
der Vorlage bildeten die freisinnige Ver- 
einigung, die Gegner die freisinnige 
Volkspartei. Bei der freisinnigen Vereini- 
gung macht sich ein besonders starker Zug zur So- 
zialdemokratie bemerkbar. Das Programm beider 
Parteien ist im wesentlichen das der Fortschritts- 
partei. Danach erstrebt die Partei auf politischem 
Gebiet die Entwicklung eines wahrhaft konstitutio- 
nellen Verfassungslebens in gesichertem Zusammen- 
wirken zwischen Regierung und Volksvertretung 
und durch gesetzliche Organisation eines verant- 
wortlichen Reichsministeriums. Demgemäß tritt sie 
ein für Wahrung und Ausdehnung der politischen 
Rechte des Volks, für das allgemeine, gleiche, di- 
rekte und geheime Wahlrecht auch in den deutschen 
Einzelstaaten. Beschränkungen des Budgetrechts 
des Parlaments, wie sie z. B. in den drei Militär- 
septennaten und bei dem Flottengesetz von 1898 
vorlagen, wurden von den Freisinnigen bekämpft. 
Auf wirtschaftspolitischem Gebiet ist der Freisinn 
unbedingter Anhänger des liberalistischen Wirt- 
schaftssystems: Gegner jedes staatlichen Eingrei- 
fens in das Wirtschaftsleben und Anhänger des 
Freihandels. Das freisinnige Wirtschaftspro- 
gramm fordert die Bekämpfung der auf „Bevor- 
mundung und Fesselung des Erwerbs= und Ver- 
kehrslebens, der Gewerbefreiheit und der Frei- 
zügigkeit gerichteten Maßnahmen“. Durch dieses 
Programm ist auch die Stellung des Freisinns 
zur Sozialpolitik bestimmt; in Fragen des Ar- 
beiterrechts tritt er für Gleichberechtigung der 
Arbeiter mit den andern Berufsständen ein (Koa- 
litionsrecht). Den Arbeiterschutzbestimmungen steht 
er ablehnender gegenüber, weil er in ihnen ebenso 
wie in den auf Förderung des Mittelstands ge- 
richteten Bestrebungen (Innungsgesetz, Wucher- 
Parteien, 
  
politische. 1594 
gesetze, Börsengesetze usw.), die er ebenfalls be- 
kämpft, Eingriffe in das Wirtschaftsleben erblickt. 
Das starre Festhalten an den manchesterlichen 
Prinzipien und der Mangel an Verständnis für 
die wirtschaftlichen Fragen, der darin zum Aus- 
druck kommt, hat in erster Linie den Rückgang des 
Freisinns herbeigeführt. In der Kirchenpolitik 
ist der Freisinn für Trennung von Kirche und 
Staat, für möglichste Zurückdrängung des kirch- 
lichen Einflusses auf das öffentliche Leben und 
zum Teil für Entfernung des Religionsunterrichts 
aus der Schule. Gegenüber der kirchenpolitischen 
Kampfgesetzgebung der 1870er Jahre nahm der 
Freisinn eine schwankende Haltung ein; einzelne 
Gesetze verwarf er, bei andern (Kanzelparagraph) 
spaltete er sich; das Gesetz über die Zivilehe und 
die Aufhebung der Art. 15, 16 und 18 der preußi- 
schen Verfassung fand seine Zustimmung. Die 
freisinnige Partei zählte bei ihrer Konstituierung 
106 Mitglieder. Diese Zahl ging bei den Wahlen 
1884 und 1887 auf 67 bzw. 32 zurück, stieg 
aber 1890 wieder auf 67. Nach der Reichstags- 
auflösung im Jahre 1893 und der gleichzeitig ein- 
getretenen Spaltung brachte es die freisinnige 
Volkspartei nur auf 23, die freisinnige Vereini- 
gung nur auf 13 Mandate. Die betreffenden 
Zahlen stellen sich bei den Wahlen von 1898 auf 
25 bzw. 13 (inklusive 1 Hospitant); 1903: 20 
bzw. 10; 1907: 28 bzw. 14. Die Stimmenzahl 
betrug bei den letzten Wahlen für beide Parteien 
zusammen 1273 100 (1903: 915 000). Im 
preußischen Abgeordnetenhaus hat die freisinnige 
Volkspartei zurzeit 28, die freisinnige Vereini- 
gung 8 Sitze. 
Den freisinnigen Parteien nahe steht die vom 
Abgeordneten v. Payer geführte deutsche 
Volkspartei, die ihre Anhängerschaft über- 
wiegend in Württemberg zählt. 6 der zur- 
zeit (1907/12) von ihr vertretenen Reichstags- 
wahlkreise liegen in diesem Bundesstaat. Ihren 
Ursprung leitet die Partei aus der süddeutschen 
Demokratenbewegung von 1848 her. Ihr Pro- 
gramm, zuerst aufgestellt 1868, revidiert 1873 
und 1895, fordert den Ausbau des Staats nach 
demokratischen Grundsätzen, allgemeines, gleiches, 
geheimes und direktes Wahlrecht, Respektierung 
der Rechte der Bundesstaaten, Selbstverwaltung 
in Provinz, Kreis und Gemeinde, Schutz des 
Mittelstands, Trennung von Kirche und Staat. 
Die Partei hat sich seit langem in ihrer politischen 
und taktischen Haltung eng an die freisinnige 
Volkspartei angeschlossen. 
Die beiden freisinnigen Parteien und die 
deutsche Volkspartei haben im Jahre 1906 unter 
Wahrung ihrer Selbständigkeit die freisinnige 
Fraktionsgemeinschaft gebildet zum Zweck eines 
möglichst einheitlichen Vorgehens in allen poli- 
tischen Fragen. Am 6. März 1910, auf dem kon- 
stituierenden Parteitag zu Berlin, fand eine Ver- 
einigung der drei linksliberalen Gruppen unter dem 
Namen Fortschrittliche Volkspartei statt.
	        
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