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aus, und tatsächlich hat die Fraltion wiederholt
streng evangelische Männer als Hospitanten ge-
zählt, namentlich den früheren Führer der kon-
servativen Fraktion v. Gerlach, der in dem rhei-
nischen Wahlkreis Sieg-Mülheim-Wipperfürth
ins preußische Abgeordnetenhaus gewählt wurde,
sowie den früheren Unterstaatssekretär im hanno-
verschen Unterrichtsministerium, Dr Bruel. Die
im Programm niedergelegten Grundsätze haben
im Lauf der Geschichte die Haltung der Partei
im einzelnen wie folgt gestaltet. Dem föderativen
Charakter des Reichs entsprechend ist sie stets für
Wahrung der Rechte der Einzelstaaten eingetreten
und hat insbesondere der von der Linken geforderten
Übernahme der den Einzelstaaten vorbehaltenen
direkten Besteuerung auf das Reich Widerstand
geleistet. Sie tritt ein auf politischem Gebiet für
das allgemeine, gleiche, direkte und geheime Wahl-
recht im Reich und in den Einzelstaaten, für die
Wahrung des Budgetrechts der Volksvertretung
und für die Selbstverwaltung der Kommunen. In
wirtschaftlicher Beziehung steht sie auf dem Stand-
punkt der ausgleichenden Gerechtigkeit. Von diesem
Standpunkt tritt sie ein für Förderung der In-
teressen aller Erwerbsstände im Rahmen des Ge-
meinwohls, im besondern für Schutz und Stär-
kung der wirtschaftlich Schwachen im Arbeiter-
und Mittelstand und für die Verteilung der öffent-
lichen Lasten nach dem Grad der Leistungsfähig-
keit. Sie ist Anhängerin des Schutzzollsystems
als des zurzeit den nationalen Bedürfnissen des
Reichs allein entsprechenden Wirtschaftssystems.
Auf kirchenpolitischem Gebiet verlangt sie Durch-
führung der verfassungsmäßigen Parität sowie
Gleichberechtigung und Freiheit der Religions=
gemeinschaften. Kirche und Staat betrachtet sie
als koordinierte, auf ihrem Gebiet souveräne Ge-
walten, die in Eintracht zusammen wirken sollen.
Daher ist die Partei Gegnerin der Trennung
von Kirche und Staat; auf dem Gebiet der
Schule fordert sie die Konfessionsschule. Ver-
möge ihrer numerischen Stärke, ihrer Hingebung
an die parlamentarischen Aufgaben und ihrer be-
sonnenen Politik hat die Zentrumsfraktion beson-
ders im deutschen Reichstag großen Einfluß auf die
Entwicklung der öffentlichen Verhältnisse ausgeübt.
Während der ersten Jahre ihres Bestehens wurde
sie fast ausschließlich von dem Kampf um die kirch-
liche Freiheit in Anspruch genommen. Unter
hervorragenden Führern wie v. Mallinckrodt, den
beiden Reichensperger, v. Schorlemer-Alst und
Windthorst führte die Fraktion den Kampf gegen
die Maigesetze mit immer wachsendem Erfolg, so
daß nach und nach die mit dem kirchlichen Recht
am wenigsten verträglichen Bestimmungen beseitigt
wurden. Sobald der kirchenpolitische Konflikt an
Schärfe verlor und wichtige staatliche Aufgaben
in den Vordergrund des Interesses traten, beteiligte
sich die Zentrumsfraktion eifrig an ihrer Lösung.
So lieh sie im Jahre 1879 bei dem Übergang
Deutschlands zur Schutzzollpolitik dem Fürsten
Parteien, politische.
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Bismarck ihre ausschlaggebende Mitwirkung.
Besondere Aufmerksamkeit hat sie von jeher den
sozialpolitischen Aufgaben geschenkt. Schon im
Jahre 1877, als die Regierung sich ihnen gegen-
über noch gänzlich ablehnend verhielt, brachte sie
im Reichstag einen umfassenden sozialpolitischen
Antrag ein. Die spätere sozialpolitische Gesetz-
gebung des Deutschen Reichs ist unter ihrer führen-
den und stets anregenden Mitwirkung zustande
gekommen. Bei der Schaffung des B. G. B. und
der deutschen Flotte sowie bei der großen Reichs-
finanzreform des Jahres 1909 hat sie entscheidend
mitgewirkt.
Im Lauf des Jahres 1909 machte sich unter
den Katholiken des Reichs kine Bewegung bemerk-
bar, welche darauf abzielte, der Zentrumsfraktion
ein konfessionelles Gepräge zu geben. Die Wort-
führer dieser Bewegung, unter denen sich zwei Mit-
glieder der Zentrumsfraktion des deutschen Reichs-
tags (Roeren und Bitter) befanden, brachten eine
„Definition“ des Zentrums in Vorschlag, dahin
lautend: „Das Zentrum ist eine politische Partei,
die sich zur Aufgabe gestellt hat, die Interessen des
gesamten Volks auf allen Gebieten des öffent-
lichen Lebens im Einklang mit den Grundsätzen
der katholischen Weltanschauung zu vertreten."“
In der Auseinandersetzung, welche sich innerhalb
der Zentrumspartei über diese Definition entspann,
wurde dieselbe von der weit überwiegenden Mehr-
heit der Zentrumsblätter sowie der damit be-
faßten Zentrumsorganisationen abgelehnt. Am
28. Nov. 1909 befaßte sich dann auf Anregung
des Provinzialausschusses der rheinischen Zen-
trumspartei in einer zu Berlin abgehaltenen
Sitzung der Vorstand der Zentrumsfraktion des
deutschen Reichstags sowie der Landesausschuß
der preußischen Zentrumspartei, welchem der Vor-
stand der Zentrumsfraktion des preußischen Ab-
geordnetenhauses angehört, mit dieser Angelegen-
heit. Es wurde einstimmig eine Erklärung ange-
nommen und veröffentlicht, welche aussprach:
„Die Zentrumspartei ist grundsätzlich eine po-
litische, nichtkonfessionelle Partei; sie steht auf dem
Boden der Verfassung des Deutschen Reichs, welche
von den Abgeordneten fordert, sich als Vertreter des
gesamten deutschen Volks zu betrachten."
Die Erklärung enthält weiter die folgenden Sätze:
„Mit diesem grundsätzlichen Charakter steht kei-
neswegs im Widerspruch, daß die Zentrumspartei in
den langen Jahren des Kulturkampfs die Abwehr
der gegen den katholischen Volksteil gerichteten
Maßnahmen auf dem Gebiet der Gesetzgebung und
Verwaltung als erste und dringendste Aufgabe be-
trachten mußte, und daß es auch heute noch eine
ihrer vornehmsten Pflichten ist, die staatsbürger-
liche Gleichberechtigung der katholischen Minderheit
zu wahren. Auch in der Erfüllung dieser Pflicht
hat die Zentrumspartei niemals den Charakter
einer politischen Partei verleugnet, welche auf den
rechtlichen Grundlagen eines konfessionell gemischten
Staats zu wirken berufen ist. Abgesehen von dem
Programm bietet die Tatsache der Zugehörigkeit
fast aller ihrer Wähler und ihrer Abgeordneten zur