1599 Parteien,
katholischen Kirche genügende Bürgschaft dafür,
daß die Zentrumspartei die berechtigten Interessen
der deutschen Katholiken auf allen Gebieten des
öffentlichen Lebens nachdrücklichst vertreten wird.
Dadurch verliert aber die Zentrumspartei nicht den
Charakter einer rein politischen Partei. Die Zen-
trumspartei hat die Zugehörigkeit zur Partei nie-
mals von der Angehörigkeit zum katholischen
Glaubensbekenntnis abhängig gemacht, und die
Zentrumsfraktion des Reichstags hat auch tatsäch-
lich bis heute stets Angehörige eines nichtkatholi-
schen Glaubensbekenntnisses zu ihren Mitgliedern
gezählt, welche allen, auch ihren intimsten Ver-
handlungen beigewohnt haben. Dabei ist es als
selbstverständlich zu betrachten, daß in denjenigen
Fragen, welche das religiöse Gebiet berühren, sich
jeder Abgeordnete nach den Grundsätzen seines
Glaubensbekenntnisses richtet. Ein solches Zusam-
menwirken katholischer und nichtkatholischer Männer
innerhalb der Zentrumspartei ist ein wertvolles
Unterpfand für die Förderung des Friedens unter
den christlichen Konfessionen und erleichtert es, auch
dasjenige wirksam zu schützen, das denselben ge-
meinsam ist.“
Mit dem Zentrum Hand in Hand geht in den
meisten, besonders in den kirchenpolitischen Fragen
die kleine Fraktion der Polen, die zurzeit
(1907/12) im Reichstag 20 und im preußischen
Abgeordnetenhaus (1908/13) 15 Mitglieder
zählt. Die polnischen Abgeordneten sind in den
Provinzen Posen, Westpreußen und Schlesien ge-
wählt worden mit der besondern Aufgabe, die
Rechte der polnischen Nationalität, namentlich in
Kirche und Schule, zu schützen. Unter dem Ein-
fluß der sich verschärfenden nationalen Gegensätze
waren die Beziehungen zwischen Zentrum und
Polen in den letzten Jahren weniger enge geworden.
Die gemeinsame Frontstellung gegen die stets
schärfere Formen annehmendepreußische Ostmarken-
politik und das gemeinsame Interesse führten in-
des bei den Landtagswahlen von 1908 wieder zu
einer gegenseitigen Annäherung.
Als Vertreter bestimmter Volksstämme gehören
außer den Polen dem Reichstag und dem preu-
ßischen Abgeordnetenhaus 1 bzw. 2 Dänen, dem
Reichstag außerdem 8 Elsaß-Lothringer an.
Im konstituierenden Reichstag von 1867 saßen
auch die drei ersten sozialistischen Abgeordneten:
Liebknecht, Bebel und v. Schweitzer. Eine einheit-
liche sozialdemokratische Partei gibt es
in Deutschland erst seit dem Jahre 1875, in welchem
sich die beiden Gruppen der Lassalleaner und
Marxisten zur sozialistischen Arbeiterpartei ver-
banden. Damals gewann die durch Liebknecht
und Bebel vertretene, auf dem Boden des Eisen-
acher Programms (1869) stehende internationale
revolutionäre Richtung in der Arbeiterbewegung
die Oberhand über die im Allgemeinen Deutschen
Arbeiterverein — 1863 gegründet von Ferdinand
v. Lassalle und später geführt von v. Schweitzer —
organisierte sozialreformerische, evolutionistische
Richtung. Die sozialdemokratische Partei ist wie
der Sozialismus, dessen Ideen sie zu verwirklichen
politische. 1600
sucht, eine Folgeerscheinung der sozialen Um-
wälzungen des 19. Jahrhunderts. Der Sozialis-
mus und mit ihm das sozialdemokratische Partei-
programm verlangt „die Verwandlung des kapi-
talistischen Privateigentums an Produktions-
mitteln in gesellschaftliches Eigentum“. Um dieses
Ziel zu erreichen, strebt die sozialdemokratische
Partei nach der Eroberung der politischen Macht.
Dabei stützt sie sich vor allem auf die Industrie-
arbeiter in den Großstädten. Dieses „Endziel“
vor Augen, erhebt die Partei auch eine lange
Reihe radikaler Forderungen, die schon bei der
gegenwärtigen Staatsordnungerfüllt werden sollen.
Auf dem Gebiet der Politik und Verwaltung ver-
langt sie allgemeines, gleiches, geheimes direktes
Wahlrecht für alle 20 Jahre alten Reichsange-
hörigen ohne Unterschied des Geschlechts, Selbst-
bestimmung und Selbstverwaltung des Volks
in Reich, Staat, Provinz und Gemeinde, Wahl
der Behörden durch das Volk. Volkswehr statt
stehender Heere, Unentgeltlichkeit des gesamten
Unterrichts, der Rechtspflege und der ärztlichen
Behandlung; auf finanzpolitischem Gebiet stark
progressive Einkommens-, Vermögens= und Erb-
schaftssteuer. Die Wirtschafts= und Sozialpolitik
der sozialdemokratischen Partei wird in letzter Linie
bestimmt durch das kommunistische Endziel, welches
sie am Ende der natürlichen Entwicklung des
Wirtschaftslebens sieht. Ein Eingreifen des Staats
in die wirtschaftlichen Verhältnisse lehnt sie ab, ist
daher Anhängerin des Freihandels und Gegnerin
staatlicher Maßnahmen, die auf Erhaltung und
wirtschaftliche Hebung der mittleren und kleinen
Existenzen abzielen, weil sie in ihnen Hemmnisse
der natürlichen Entwicklung und der nach der
sozialistischen Theorie stetig fortschreitenden Ver-
elendung der Massen erblickt. In etwa gemildert
wurde in den letzten Jahren diese absolut negie-
rende Haltung infolge des erstarkenden Einflusses
der revisionistischen und der mit ihr Hand # Hand
gehenden gewerkschaftlichen Bewegung, de m An-
hänger zwar ebenfalls am Klassenkampf fesrhalten,
die Lage der Arbeiterklasse aber schon im Gegen-
wartsstaat durch radikale Reformen, durch Staats-
und Selbsthilfe heben wollen. Maßnahmen zum
Zweck der Förderung des Mittelstands wernen
nach wie vor abgelehnt. Die Partei ist aul te
noch infolge ihres rein agitatorischen, die Br alt-
nisse nicht berücksichtigenden Auftretens im allge-
meinen politisch und sozialpolitisch unfruchtbar.
Das Verhältnis der sozialdemokratischen Partei
zu Religion und Kirche wird bestimmt durch die
materialistische Geschichtsauffassung des Sozialis-
mus, die jeglicher Religion feindlich gegenüber-
steht, und durch seine Wirtschaftstheorie, die kirch-
liche Gemeinschaften unmöglich macht. Die anti-
religiöse Tendenz des Sozialismus macht es der
Partei auch im Gegenwartsstaat praktisch unmög-
lich, die im Programm geforderte Trennung von
Kirche und Staat loyal durchzuführen. — Das
stetige Anwachsen der Sozialdemokratie löste Be-