Full text: Staatslexikon. Dritter Band: Kaperei bis Paßwesen. (3)

1601 Parteien, 
strebungen aus, welche darauf abzielten, das 
weitere Umsichgreifen der sozialistischen Ideen 
durch Unterbindung der Preß-, Vereins- und 
Versammlungstätigkeit in sozialistischem Sinne zu 
verhindern. Hierhin gehört das im Jahre 1878 
erlassene Sozialistengesetz, welches bis 1890 in 
Kraft war. Trotz Vernichtung ihrer äußern Or- 
ganisation gelang es aber der Sozialdemokratie, 
die sozialen Mißstände in weitgehendem Maß für 
ihre Ziele auszubeuten, so daß sie sich auch unter 
der Herrschaft des Sozialistengesetzes immer mäch- 
tiger entfaltete. Nach einem anfänglichen Stimmen- 
rückgang unmittelbar nach Inkrafttreten des Ge- 
setzes (1877: 493288; 1881: 311961 Stimmen) 
schwollen die Stimmen bei den folgenden Wahlen 
ständig an: 1884: 549 990; 1887: 763 128; 
1890: 1427298; 1893 (nach Aufhebung des 
Sozialistengesetzes im Oktober 1890): 1786 738; 
1898: 2107076; 1903: 3010771; 1907: 
3258.000. Die Zahl der Mandate betrug 1874: 
9; 1877: 12; 1878: 9; 1881: 12; 1884: 24; 
1887: 11; 1890: 35; 1893: 44; 1898: 57; 
1903: 80; 1907: 43. Im preußischen Ab- 
geordnetenhaus hat die Partei erst seit dem Jahre 
1908 einige Sitze inne. Bis dahin hatte das 
plutokratische Dreiklassenwahlrecht die Wahl von 
Sozialdemokraten verhindert. Von den 43 zurzeit 
sozialdemokratisch vertretenen Reichstagswahl- 
kreisen besitzen nur 5 (München, Mülhausen i. E., 
Mainz, Duisburg, Straßburg) eine überwiegend 
katholische Bevölkerung; 22 dieser Wahlkreise 
haben eine fast ausschließlich protestantische Be- 
völkerung (über 80%). 
Die Parteien, welche im Reichstag und im 
preußischen Abgeordnetenhaus vertreten sind, finden 
sich durchweg auch in den Landtagen der übrigen 
deutschen Bundesstaaten. In Bayern und Baden 
stehen sich namentlich die nationalliberale Partei 
und das Zentrum gegenüber; in Württemberg 
führt" die nationalliberale Partei den Namen 
„Deulsche Partei“, die Linke bildet dort die 
(demokratische) „Volkspartei“. Auch das Zentrum 
ist in ansehnlicher Stärke vertreten. In Sachsen 
stehen sich vornehmlich Konservative und National- 
liberale, in Hessen Nationalliberale und Zentrum 
. nüber. In den beiden letzteren Staaten sind 
Eris einzelne antisemitische Abgeordnete ge- 
wöhlt worden. Die meisten Landtage weisen auch 
sozialdemokratische Gruppen auf, insbesondere 
gilt dies von den thüringischen Kleinstaaten; in 
Sachsen und Baden bilden seit den Landtags- 
wahlen von 1909 die Sozialdemokraten die dritt- 
bzw. zweitstärkste Gruppe. 
Von Anfang 1907 bis Mitte 1909 bestand 
im deutschen Reichstag eine Parteikonstellation, 
die unter dem Namen „Block“ bekannt ist und 
die während dieser Zeit auf das deutsche Partei- 
wesen einen großen Einfluß ausgeübt hat. Der 
ihr zugrunde liegende Gedanke war, die konser- 
vativen und liberalen Parteien bei allen wichtigeren 
politischen Fragen unter Ausschaltung des Zen- 
Staatslexikon. III. 3. Aufl. 
  
politische. 1602 
trums zur Mehrheitsbildung heranzuziehen. Von 
Einfluß auch auf die einzelnen Parteien war die 
Blockpolitik deshalb, weil nach dem Willen des 
Begründers des Blocks, des früheren Reichs- 
kanzlers Fürsten Bülow, das bezeichnete Ziel 
dadurch erreicht werden sollte, daß die in Frage 
kommenden, sich grundsätzlich schroff gegenüber- 
stehenden Parteien bei den notwendigen Kompro- 
missen ihre Grundsätze bis zu einem gewissen 
Grad preisgaben. Der Block unterscheidet sich 
von dem früheren die Konservativen, Freikonser- 
vativen, Nationalliberalen, nicht aber die Freisin- 
nigen umfassenden Kartell des Fürsten Bismarck 
dadurch, daß in letzterem die Mitwirkung sämt- 
licher zum Kartell gehörigen Parteien bei der 
Lösung der Staatsaufgaben niemals zur conditio 
sine qua non gemacht, sowie dadurch, daß von 
den im Vergleich mit den Blockparteien durch 
größere Homogenität ausgezeichneten Kartellpar- 
teien niemals ein so weitgehender, das innerste 
Wesen der Parteien berührender Verzicht auf ihre 
Grundsätze verlangt wurde. Da die — wohl be- 
absichtigte —. Folge der Blockpolitik gewesen wäre, 
daß dem Liberalismus allmählich größerer Ein- 
fluß im gesamten politischen Leben Deutschlands 
verschafft worden wäre, hat die konservative Partei, 
um nicht selbst zu diesem Ergebnis beizutragen, 
im Jahre 1909 bei der Reichsfinanzreform, ins- 
besondere bei der Frage der Erbanfallsteuer, der 
Politik des Entgegenkommens gegen den Liberalis- 
mus ein Ende gemacht und die Reichsfinanz- 
reform in Gemeinschaft mit dem Zentrum er- 
ledigt. Bei einer von weiteren störenden Ein- 
griffen frei bleibenden ruhigen Entwicklung des 
innerpolitischen Lebens in Deutschland werden 
wieder wie vor der Blockpolitik die sozialpolitischen 
und wirtschaftspolitischen Fragen vor den rein 
politischen und parteipolitischen das Hauptinteresse 
auf sich lenken, und von der Stellung, welche die 
parlamentarischen Parteien zu ihnen einnehmen, 
sowie namentlich von ihrer Fähigkeit, die sich ver- 
schärfenden wirtschaftlichen Gegensätze in den 
eignen Reihen auszugleichen, wird es zumeist ab- 
hängen, inwieweit sie sich zu behaupten vermögen. 
III. Außerdeutsche Verhältnisse. Öster- 
reich besitzt einen ausgesprochen föderalistischen 
Charakter. Derselbe ist begründet: in der geschicht- 
lichen Entwicklung Osterreichs und der Verschieden- 
heit seiner einzelnen Länder nach Verfassung, Ge- 
setzgebung und Verwaltung vor dem Anschluß an 
Osterreich; in der Verschiedenheit nach Nationali- 
täten; in der mit Ausnahme weniger und kurzer 
Epochen bis auf den heutigen Tag von den Mon- 
archen anerkannten Gleichberechtigung der Na- 
tionalitäten und historischen Eigenberechtigung und 
Integrität der einzelnen Königreiche und Länder 
mit ihren eignen Landtagen; in der natürlichen 
Verschiedenheit der einzelnen Teile. Dieser föde- 
ralistische Charakter Osterreichs ist die Ursache, 
weshalb wir in Osterreich keine Reichspartei finden. 
Am nächsten kam einer solchen die frühere „Ver- 
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