Full text: Staatslexikon. Dritter Band: Kaperei bis Paßwesen. (3)

1609 Parteien, 
sind auch die regionaren Interessen; besonders 
Süditalien findet in der neuen Ordnung der 
Dinge nicht seine volle Befriedigung, und so blüht 
der Weizen der Sozialdemokratie unter der Ar- 
beiterschaft, nicht minder aber unter dem durch die 
Art der Besitzverhältnisse massenhaft im Elend ver- 
kommenden Landvolk. 
An der politischen Parteibildung ist das Volk 
in Spanien nur in bestimmten Gegenden be- 
teiligt, worin auch das Geheimnis der Wahlmache 
der wechselnden Regierungen liegt. Wenn von 
Parteiung die Rede ist, so kommt dabei zunächst 
in Betracht der Gegensatz zwischen den Anhängern 
des Don Carlos und der jetzigen Dynastie, ver- 
treten durch Alfons XIII.; diese Spaltung macht 
sich auch unter der Geistlichkeit, hoher wie niederer, 
deutlich bemerkbar und hindert einen Zusammen- 
schluß, wie er durch das Mittel der allgemeinen 
Katholikentage gesucht wurde. Den nachdrücklichen 
Versuch einer Zusammenfassung zu einem staats- 
erhaltenden katholisch-konservativen Block machte 
nach dem Juliaufstand in Barcelona 1909 und 
dem ÜUbergang der Regierung in liberale Hände der 
bisherige konservative Ministerpräsident Maura; 
demgegenüber näherten sich die Liberalen teilweise 
mehr der Linken, während liberal und konser- 
vativ bis dahin mehr eine formale Benennung 
bedeutete, als daß sie zwei in sich programmatisch 
einheitliche, scharf gegensätzliche Gruppen kenn- 
zeichneten; hat doch Canovas, der konservative 
Führer, gewissen Konservativen als liberal ge- 
golten, Sagasta, das langjährige Haupt des 
Liberalismus, sich als konservativ bezeichnen lassen 
müssen. Beide fanden öfter im eignen Lager heftige 
Bekämpfung, ein Beweis, wie ungeklärt die Partei- 
verhältnisse nach dieser Richtung hin waren. Beide 
Parteien wahrten streng das monarchische Prin- 
zip, während unter Maura der liberale Führer 
Moret dank jener Abschwenkung weiter nach links 
sogar mit dem Republikanismus drohte. Das be- 
deutete eine Stärkung des demokratischen Flügels 
der Liberalen. Die im Lager der Liberalen unter 
Isabella ausgebrochene Spaltung führte ihrer Zeit 
zur Vertreibung der Regentin und zur Republik. 
Seitdem datiert das Dasein der republikanischen 
Partei, welche die Republik selbst überdauerte. 
Soziale und politische Gesichtspunkte vereinigen 
sich bei den mehrfach blutig verlaufenen Be- 
wegungen, die von republikanisch-sozialistisch- 
anarchistischer Seite hervorgerufen werden und 
sich gegen die Kirche oder die Regierung oder den 
Besitz richten. In diese Bewegungen spielt der 
Regionalismus hinein, der, wie in Katalonien, 
wiederum seine besonders zusammengesetzte An- 
hängerschaft besitzt. Zeitweilig wurde hier die sog. 
Solidaridad zusammengebracht, und zwar unter 
wesentlicher republikanischer Mitwirkung: eine re- 
gionalistische Gemeinbürgschaft von Angehörigen 
der verschiedensten Parteirichtungen. 
Auch in Portugal standen sich die Legitimisten 
(Anhänger des Dom Miguel und seiner Rechts- 
  
politische. 
nachfolger) und die Freunde des jetzt regierenden 
Hauses Coburg gegenüber, bis 1909 Dom Miguel 
seinen Ansprüchen entsagte. In den Cortes unter- 
scheidet man eine mehr konservative und eine fort- 
schrittlichere Gruppe, für deren Unterscheidung aber 
ziemlich dasselbe gilt wie für die entsprechenden 
spanischen Parteiverhältnisse. Daneben besteht die 
republikanische Partei sowie die junge Partei des 
katholischen Zentrums. 
Besonders lehrreich ist die zeitgenössische Beob- 
achtung der Bildung politischer Parteien von 
Grund aus, schon bei bloßer Neuorientierung des 
politischen Lebens in konstitutionellen Staaten, 
weit mehr aber noch in Staatswesen, wo bislang 
das öffentliche politische Leben, die Volksmeinung 
niedergehalten wurde und nur ein absoluter Wille 
galt, der freilich hinter den Kulissen oft genug 
unbewußt gelenkt wurde. Nicht so gewaltsam 
wie der Umschwung in Frankreich durch die große 
Revolution, nicht dem Sprunge von dem einen 
Extrem zum äußersten andern vergleichbar, aber 
doch ein Schauspiel, wie es sich mit einer ähnlichen 
Szenerie kaum wiederholen wird — wir wagen 
über Indien und China kein Prognostikon zu 
stellen —, aufregend und lehrreich war das, was 
aus dem großen Krieg in der Mandschurei und 
den revolutionären Zuckungen im europälschen 
Reichsteil für die innerpolitische Entwicklung Ruß- 
lands herauskam. Der Zar und die Kreise um 
ihn, teils aus innerem moralischen Drang, wie er 
anderswo nach der Volkserhebung 1813 sich ge- 
zeigt hatte, in etwa geneigt, dem Volk für seine 
Opfer an Gut und Blut wenigstens einen Schein 
von Mitwirkung an der Entscheidung über des 
Landes Recht und Wirtschaft zuzubilligen, dann 
aber, durch mancherorts flammenden Aufruhr in 
Schrecken gesetzt, um sich selber bangend zu weit- 
gehenden Zugeständnissen bereit, sie faßten sich 
mit der Zeit wieder und markteten oder zwackten 
dem Volk und seiner Vertretung nach und nach 
mehr und mehr von den im Augenblick der Furcht 
verbrieften Rechten wieder ab, bis sie deren Kern 
wieder zum Schein, die Volksvertretung und deren 
konstitutionsmäßig paritätischen Machtfaktor zur 
bloßen Ratgeberin des wiederum zum Selbst- 
herrscher gestempelten Zaren gemacht hatten. Sie 
wurden dabei gestützt durch eine Partei, welche die 
Negation des Parteiwesens verkörperte, die ex- 
treme Rechte der Reichsduma, die mit dem ge- 
samten Parlamentarismus tatsächlich auch sich 
verurteilte, sich den Rechtsboden des Daseins ent- 
zog und sich selbst auch wohl nur in dem Sinne und 
mit derjenigen Beschränkung duldete, daß eben 
auch in der Reichsduma der Selbstherrscher und 
der altrussische, antikonstitutionelle, antiparlamen- 
tarische Gedanke eine Schutztruppe nicht entbehren 
könne. Zuerst, als der Lärm der revolutionären 
Erscheinungen noch nachhallte, kleinlaut, faßte 
sich doch die extreme Rechte schnell zum Kampf 
gegen Revolution und Konstitution, für den Zaren 
und die Orthodoxie, dieses Piedestal des Selbst- 
1610
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.