Full text: Staatslexikon. Dritter Band: Kaperei bis Paßwesen. (3)

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herrschertums, wobei sie zeitweilig sogar in einen 
freilich nur äußerlichen Widerspruch zur Regierung 
geriet. Diese Rechte faßt so ziemlich alles, was 
links von ihr steht, als dem wahren und echten 
russischen Gedanken fremd und feindlich auf. In 
der Tat sind die Parteigedanken und Parteibil- 
dungen, wie sie außer der (extremen) Rechten in 
der Reichsduma Vertreter haben, auf den „We- 
sten“ zurückzuführen. Zuerst die so zialrevolu- 
tionäre Partei, die von der Schweiz her durch 
Flüchtlinge gebildet wurde und den russischen 
Bauernstand mit ihrem Ferment zu durchsetzen 
suchte. Dann trat die sozialdemokratische Par- 
tei auf, ebenfalls vom Ausland angeregt, wandte 
sich aber den städtischen Arbeitern zu. Anfangs ein- 
heitlich, zerfiel diese Partei gegen 1900 in mehrere 
nationale Richtungen: die polhnische, die lettische 
und in den ganz besonders radikalen „Bund“ 
des jüdischen intellektuellen Proletariats, der seine 
Fäden durch das ganze Reich zog, unter über- 
legter, zäher und rücksichtsloser Leitung eine 
scharfe Propaganda, auch der Tat, entfaltete und 
so die altrussischen Gegner von Revolution und 
Konstitution zu einer erbarmungslosen Gegen- 
agitation reizte. Starke Keime der Parteibildung 
steckten auch in der der Bureaukratie und unverant- 
wortlichen Selbstherrschaft feindseligen Intelligenz, 
deren Bildungshunger sie auf den Westen hinwies 
und die, wie es im russischen Charakter liegt, sich 
keine bestimmte besonnene Grenze setzte. Diese 
Klasse der Gesellschaft ließ sich sehr weit gehen, als 
sie während der kurzen Periode Swjatopolk-Mir- 
skys in den nach dem Wahlgesetz von 1890 zusam- 
mengesetzten Semstwos — ländlichen Selbstver- 
waltungskörperschaften — eine demokratische Hal- 
tung annahm und durch Abgesandte in St Peters- 
burg eine Art Vorparlament bildete, das mit 
großer Mehrheit eine gesetzgebende Körperschaft 
forderte. Der Stein war im Rollen; die revolu- 
tionäre Gruppe der Oswoboschdenje bildete sich 
und organisierte namentlich in den großen Städten 
revolutionäre Ausschreitungen in Konkurrenz mit 
den schon genannten sozialdemokratischen Gruppen. 
Ganz Rußland geriet in Erschütterung, die höchste 
Spitze schien zu wanken, und es ergingen die Er- 
lasse, die unter anderem auch die Volksvertretung 
vorbereiteten. Als diese, die Reichsduma, geschaffen 
war mit ihrer bestimmten Anzahl von Volksver- 
tretern, mußten nach und nach die Grenzen der 
Parteigruppen schärfer gezeichnet werden; so ohne 
weiteres gab es noch keine fertigen Fraktionen, so 
wenig wie das einige Jahre später in dem türkischen 
Parlament der Fall war. Die Elemente waren 
allerdings von vornherein gegeben. Auf der äußer- 
sten Linken konsolidierten sich die Sozialdemo- 
kraten; dann gruppierte sich die radikale konsti- 
tutionelle Intelligenz offiziell als konstitutio- 
nelle Demokratie (K. D. = Kadetten), deren 
Geschichte in der Oswoboschdenje wurzelt, also 
eine revolutionäre Makel trägt, und die Folge 
war, daß in der schnellen Weiter= bzw. Rück- 
Parteien, 
  
politische. 1612 
entwicklung diese Partei den ganzen feindseligen 
Druck von oben zu spüren bekam und als nicht 
gesetzlich autorisierte Partei gleichsam geächtet und 
an praktischer Mitarbeit gehindert war. Zum 
Parteiprogramm haben die Oktobristen — 
zum Teil aus den demokratischen Semstwoleuten 
hervorgegangen — die Formeln und den Geist 
der konstitutionellen Oktobererlasse von 1905 
gemacht. Durch Deutelung und Zwang ist deren 
Wortlaut der Geist mehr und mehr ausgetrieben 
worden, und die Oktobristen mußten viel Wasser 
in ihren konstitutionellen Wein gießen, um unter 
Aufrechterhaltung der Freundschaft mit der Re- 
gierung zu retten, was zu retten war, eine pein- 
liche Aufgabe besonders unter dem Gesichts- 
punkt, daß sie mit der oben gekennzeichneten 
Rechten als Regierungsmehrheit figurierten. Auf 
die Dauer konnten sie, sofern sie programmtreue 
Liberale blieben, auch das Verhältnis zur Regie- 
rung nicht mehr aufrecht erhalten, als diese die 
Oktobererlasse verleugnete und sich dem gemä- 
Pßigten Teile der Rechten näherte. Von den Okto- 
bristen schloß sich dann der gefügigere rechte Flügel 
ab, mit der Hoffnung, sich noch manche Oktobristen 
im einzelnen ankristallisieren zu sehen. So erhielt 
die neue Rechte, die nun aus drei Gruppen bestand, 
Aussicht, bald die Oktobristen, die noch stärkste 
Fraktion, zu überflügeln. Das Programm dieser 
Rechten ist russisch-nationalistisch = antisemitisch= 
orthodox und tritt für die „selbstherrlich-konstitutio- 
nelle“ Mischidee ein. Die polnischen Abgeord- 
neten bilden als „Kolo“ ihre besondere nationale 
Gruppe, als „Fremdvolk“ wurden sie durch die 
Verschlechterung der Wahlgesetzgebung zugunsten 
des Russentums stark eingeschränkt und benach- 
teiligt. 
In den nordischen Ländern Dänemark, 
Schweden und Norwegen drängte sich im 
Parteileben die radikale Richtung weiter vor, in 
Dänemark riß sie die Regierung an sich, in Schwe- 
den führte sie zu einem großen, erbarmungslosen 
wirtschaftlichen Kampf, der im wesentlichen zu 
ihren Ungunsten endete, in Norwegen aber erlitt 
sie, die bis dahin die unbestrittene Herrschaft hatte, 
eine merkwürdige Niederlage durch die erstmalige 
Wahlbeteiligung der Frauen. Die Macht der kon- 
solidierten Linken und der Sozialdemokraten wurde 
zugunsten der gemäßigten freisinnigen Linken und 
der vereinigten Rechten durch diesen neue Wähler- 
zuzug gebrochen. 
An der Grenze europischer Zivilisation, zwi- 
schen abendländischer Bildung und islamischer 
Sitte eingeklemmt, leben christliche Völker, Ru- 
mänen, Serben und Bulgaren, die sich seit neuerer 
Zeit staatlicher Selbständigkeit erfreuen. Das 
Königreich Griechenland hat schon ein halbes 
Jahrhundert früher das osmanische Joch abge- 
schüttelt. Wenn man von den politischen Parteien 
dieses Landes spricht, darf man nicht außer acht 
lassen, daß die Person der Sache vorangeht und 
es sich weniger darum handelt, bestimmten Be-
	        
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