Full text: Staatslexikon. Dritter Band: Kaperei bis Paßwesen. (3)

1613 Parteien, 
strebungen als bestimmten Persönlichkeiten zur 
Geltung zu verhelfen. Im großen und ganzen 
gibt es Anhänger großgriechischer Machenschaften; 
die bedeutenderen Staatsmänner Griechenlands 
stellen sich freiwillig oder notgedrungen in den 
Dienst der großgriechischen Idee, die sich heute be- 
sonders an Kreta anklammert. Das Militär kon- 
stituierte sich 1909 als Partei und gab der Kam- 
mer und der Regierung Befehle, so daß das Ver- 
fassungsleben nur noch zum Schein fortdauerte. 
In Serbien gibt es fortschrittliche Liberale, 
Alt-- und Jungradikale. Vielfach sind es rein persön- 
liche Ziele, welche den Parteimännern vor Augen 
schweben, doch wog mit dem Erstarken des groß- 
serbischen Gedankens die jungserbisch -radikale 
Richtung über. In Rumänien verblaßte das 
Parteischema liberal-demokratisch oder konservativ, 
und es machte sich mehr und mehr der soziale Ein- 
schlag bzw. Gegensatz geltend. Bislang konnte 
man wohl das Wirken sozialistischen Geistes in 
dem wallachischen Staatswesen beobachten, aber 
seine Außerungen waren ungeordneter Art und 
von jenem gemischten Charakter, den man von den 
sozialistisch-anarchistischen Vorgängen im benach- 
barten Rußland her kennt. Im wesentlichen gingen 
seine Außerungen, gemäß dem ganz vorwiegend 
agrarischen Charakter des Landes aus bäuerlichen 
Kreisen hervor. Nach und nach haben sich kleine 
sozialistische Ortsgruppen gebildet, wichtiger war 
aber, daß es den Sozialisten gelang, aus den 
Arbeitern der staatlichen Betriebe, welche heute 
noch den Schwerpunkt der rumänischen Industrie 
vorstellen, Gewerkvereine zu bilden und sich so 
auch einen festen politischen Boden zu schaffen. 
Der Mordanschlag eines Arbeiters der Staats- 
bahnen gegen den Ministerpräsidenten Bratiann 
hat 1910 Anstoß zu einem Gesetz gegeben, 
welches den staatlichen Arbeitern und Beamten 
die Organisation bzw. den Beitritt zu einer Or- 
ganisation nur unter der Bedingung der Geneh- 
migung durch den Ressortminister gestattet. Da 
die bestehenden Gewerkvereine der staatlichen Ar- 
beiter sozialistisches Gepräge haben, war an die 
jetzt gesetzlich erforderliche ministerielle Genehmi- 
gung der Teilnahme an denselben nicht zu denken, 
und so lösten sich die Gewerkschaften sofort auf. 
An ihre Stelle ist jetzt die offizielle Organisation 
einer sozialdemokratischen Partei getreten, der auch 
das Vermögen der aufgelösten Gewerkschaften zu 
Kampfzwecken, zufiel. In Bulgarien flauten 
die Parteigegensätze, welche die erste Regierungs- 
zeit Ferdinands als Fürsten erfüllten, später ab, 
und die großbulgarischen Ziele traten neben den 
allslawischen in den Vordergrund. Das Verfas- 
sungsexperiment, das in Montenegro ge- 
macht wurde, führte zu innern Zuckungen und 
Verschwörungen, welche die Parteien vorab in 
persönliche Anhänger und Gegner der Dynastie 
schieden. Von einer Klarheit parteipolitischer Pro- 
gramme konnte, abgesehen von Einzelpunkten, hier 
so wenig die Redesein wie in dem Hauptbalkanlande. 
  
  
  
  
politische. 1614 
In der Türkei hat mit dem militärischen 
Putsch vom Juli 1908 auch das politische Partei- 
leben eingesetzt, anfangs natürlich noch in chaoti- 
scher Weise. Über diesem Chaos waltete der Geist 
des geheimen Komitees, das sich die Losung „Ein- 
heit und Fortschritt“ gegeben hatte, zu dem die 
bei jenem Putsch führenden Militärs ebenfalls 
gehörten und welches sich als Nebenregierung 
konstituierte, deren Willen sich alles, die Kammer 
so gut wie die ordentliche Regierung fügen sollte 
und auch lange Zeit sich fügen mußte. Das lag 
eben daran, daß das Komitee unter Benutzung der 
Spionage und Ausübung eines wahren Terroris- 
mus die Entwicklung gerade jener Freiheit hinan- 
hielt, für welche das alte System des Absolutis- 
mus gestürzt worden sein sollte. So konnte sich 
lange Zeit überhaupt kein konstitutionelles Leben 
entwickeln. Allerdings wagtesich ine liberale Partei 
heraus, welche unter anderem die Dezentralisation 
auf ihre Fahne geschrieben hatte, aber eben wegen 
dieses Programmpunktes, welche der Einheitsidee 
des geheimen jungtürkischen Komitees entgegen war, 
bekämpfte dieses die Liberalen nicht nur, sondern 
verfolgte es sie auch, bis es im türkischen Parla- 
ment wieder allein herrschte. Die verschiedenen 
Stämme und Nationalitäten im osmanischen Reich 
hielten aber den Gedanken der Dezentralisation 
nach wie vor fest, und zwar um so zäher, je deut- 
licher in dem Bestreben des jungtürkischen Ko- 
mitees, die „einheitliche ottomanische Nation“ zu 
schaffen, der alles überschattende mohammedanische 
Gedanke in den Vordergrund trat, und je mehr 
das Komitee bei der Preß= und Vereinsgesetzgebung 
in die alten absolutistischen Methoden verfiel, ja 
diese im Punkt der Preßgesetzgebung noch über- 
trumpfte. Mit Bezug auf die letztere zeigte sich 
das Parlament so gefügig, daß die unabhängige 
Presse dem Komitee direkt vorwarf, man habe für 
die alte Tyrannei nur eine neue eingetauscht. In- 
sofern hatte das Komitee ja recht, die Zügel straff 
anzuziehen, als die Türkei in ihrer Ganzheit noch 
nicht reif ist zum konstitutionellen und Partei- 
leben, aber diese Kenntnis hat das Komitee erst 
praktisch gewonnen, obwohl sie ihm schon vor dem 
Putsch theoretisch hätte eignen müssen. Man war 
nur mit der Begeisterung für die Doktrin der 
Freiheit an den Umsturz des Bestehenden ge- 
gangen, ohne sich bei der Frage aufgehalten zu 
haben, wie nun der Aufbau zu geschehen habe. 
Wohl mochte man dafür sich ein Schema zurecht- 
gelegt haben, eine Form, in die man die nach 
Namen und Bekenntnis so bunte ottomanische 
Menschheit hineinzupressen gedachte, aber so leicht 
die Gedanken beieinander wohnen, so hart stoßen 
sich im Raum die Dinge, und das Komitee hatte 
das Freiheitslied nicht nur sich und seinen Ideen 
gesungen. Die arabische, die asiatische, die euro- 
päische Türkei, sie alle reklamierten diese Freiheit 
in der Form autonomistischer Bestrebungen. In 
der europäischen Türkei sollten, so verlangten die 
herrschenden Jungtürken, die verschiedenen christ-
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.