Full text: Staatslexikon. Dritter Band: Kaperei bis Paßwesen. (3)

1615 Parteien, 
lichen Nationalitäten ihr politisches Sonderdasein, 
das eine hierarchische Unterlage hatte, aufgeben. 
Der Druck, mit dem dieses Ziel verfolgt wurde, 
hatte nur eine der beabsichtigten entgegengesetzte 
Wirkung. Die Albanier, des Balkans Basken, füg- 
ten sich dem jungtürkischen Schema ebensowenig, 
erst recht nicht, als sie mit Kanonen dazu gezwungen 
werden sollten. Sohatte man eine griechische Partei, 
eine bulgarische, eine albanische, eine armenische 
und eine syrisch-arabische. Zeitweilig hielten die 
Jungtürken mit den Armeniern Fühlung, um sie 
gegen die andern Christen zu gebrauchen; aber ab- 
gesehen von der Unzuverlässigkeit dieses Bünd- 
nisses trieben die blutigen Vorgänge in Adana 
einen Keil in dieses Gruppengebilde. Es war der 
Altmohammedanismus, dem diese Vorgänge zur 
Last fielen; aber so scharf auch das Komitee mit- 
tels des vorgeschobenen Militärs im April 1909 
die Bewegung in Stambul anfaßte, die angegrif- 
senen Armenier in Kleinasien bekamen doch nur 
ein sehr beschränktes Recht, so daß die Oberhäupter 
der verschiedenen armenischen Kirchen demonstrativ 
ihre Amter niederlegten. Die Nebenregierung, das 
Komitee, hatte ihr mohammedanisches Herz ent- 
deckt — aus Politik natürlich. Die Absetzung des 
Kalifen Abdu'l-Hamid und die Erhebung einer so 
gefügigen Kreatur wie Mohammed war ein Schlag 
gegen das starke einigende Prinzip der Verehrung 
des Kalifats, geführt von Leuten, die den Eindruck 
von Ketzern machen mußten, als sie durch die Pro- 
klamation der Gleichberechtigung von Christen und 
Moslems die Bandage abrissen, die bis dahin das 
Reich gehalten, Ketzer in den Augen aller guten 
Mohammedaner, die es nicht fassen konnten, daß 
nunmehr der „wahre Glaube“ nicht mehr der herr- 
schende, seine Anhängerschaft nicht mehr die be- 
vorzugte im Reich sein sollte. Da mußte das mo- 
hammedanische Herz des Komitees sich offenbaren, 
und es machte Zugeständnisse, von denen die Ein- 
führung der öffentlichen religiösen Polizei selbst 
in Saloniki, am Hauptsitz der jungtürkischen Frei- 
maurer, eines der bezeichnendsten ist. Inzwischen 
hatte die vom Komitee als Werkzeug gegen die 
seiner Einheitsidee widerstreitenden nationalen 
christlichen Klubs gedachte Vereinsgesetzgebung 
auch ihm, der geheimen Organisation, das Dasein 
rechtlich unmöglich gemacht. Es fügte sich äußer- 
lich und bildete sich in eine öffentliche politische 
Partei um, im geheimen freilich arbeitete seine 
Leitung wie eine Feme fort. Immerhin war 
aber damit das Signal zu einer Organisation der 
Parlamentarier in Fraktionen gegeben, denn den 
früheren Druck auszuüben war dem Komitee nicht 
mehr möglich unter dem neuen Recht, auch schon 
deshalb nicht, weil es den unbedingten Einfluß 
auf das Heer verloren oder doch einen großen Teil 
desselben an einen Konkurrenten, den Generalissi= 
mus Mahmud Schewbet Pascha hatte abgeben 
müssen. Die Einbuße an Macht, welche das jung- 
türkische Komitee auf diese Weise erlitt, stärkte 
nach und nach den Mut der altmohammedanischen, 
  
politische. 1616 
konservativen Kreise. Nichts hatten die Jung- 
türken nach dem Putsch mehr gefürchtet als die 
Bildung einer nun im Parlament sich mit den von 
ihnen selbst geschaffenen konstitutionellen Mitteln 
geltend machenden konservativen Partei, eines 
Horts aller rechtgläubigen Gegner des jungtürki- 
schen Modernismus. Und so war unter dem Vor- 
wand der Reaktionsbekämpfung, besonders auch 
nach den Ereignissen im April, die benutzt wurden, 
um Abdu'l-Hamid abzusetzen, mittels Kerkers, Ver- 
bannung und Galgens unter der Diktatur des Be- 
lagerungszustands gegen den Altmohammedanis- 
mus ein derartiges Einschüchterungssystem durch- 
geführt worden, daß die Konservativen kaum zu 
atmen wagten. Mit Ende 1909 wurde aus den 
angegebenen Gründen das Parteileben von dem 
jungtürkischen Druck freier, und es zeichneten sich 
die verschiedenen Richtungen schärfer und kühner 
ab, deren Anläufe früher erbarmungslos von den 
Machthabern des Tages bekämpft worden waren. 
Als das türkische Parlament Ende 1909 zu seiner 
zweiten Tagung zusammentrat, mußten erst die 
Anhänger der verschiedenen Richtungen mitein- 
ander Fühlung nehmen. Abgesehen von den „Ab- 
geordneten der Komiteepartei“, den gefügigen 
Werkzeugen des formell zwar zur eignen Auf- 
lösung geschrittenen politischen jungtürkischen Ko- 
mitees, das aber tatsächlich alles daran setzte, um 
allenthalben die leitenden Fäden auch weiter in 
der Hand zu behalten, glichen die Abgeordneten 
einer hirtenlosen Herde. Sofort aber machte sich 
der Gedanke der Dezentralisation auf nationa- 
listischer Grundlage geltend, die itio in 
partes der Griechen, der Armenier, der Bulgaren. 
Letztere zeigten sich gespalten in eine Gruppe, 
welche es mit den Jungtürken hielt, treu dem Zu- 
sammengehen beim Umsturz, und eine großbulga- 
rische Gruppe, welche die Beziehungen zum König- 
reich pflegen will. Ferner schlossen sich die Albanier, 
dann auch die Araber und Syrer zusammen. Die 
drei letzteren Kategorien verband mit den Griechen 
und einigen Armeniern der gemeinsame Gedanke 
autonomistischer Dezentralisation im scharfen Ge- 
gensatz zu der Komiteepartei, und so glaubte man 
von einer neuen gemäßigt liberalen Partei 
sprechen zu können, der Wiederbelebung der seiner- 
zeit von dem Komitee verfolgten und unterdrückten 
Gruppe, der auch der Prinz Sabaheddin angehört 
hatte. Treibende Kräfte in dieser Partei waren die 
Araber. Eine demokratische Gruppe bezeichnete 
als ersten ihrer Programmpunkte besonders den 
Schutz der arbeitenden Klassen, Sicherung aller 
Freiheiten, Volksunterricht in den nationalen 
Sprachen neben der Reichssprache. Als konser- 
vative Partei waren die Hodschas anzusprechen, 
welche den alttürkischen Gedanken vertraten. Außer- 
dem suchten sich noch kleinere Gruppen geltend zu 
machen, die sich die Bezeichnung liberal oder de- 
mokratisch beilegten, in der Hauptsache aber nur 
Symptome des Tastens bei neu aufkeimendem po- 
litischen Leben darstellten.
	        
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