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nur das Publikum durch diese Verbreitung be-
lästigt worden ist, sich als „grober Unfug“ im
Sinn des Gesetzes auffassen lasse, mit höchst ge-
schraubter Begründung gebilligt hat.
Das neue Preßgesetz erwies sich in der Praxis
zunächst keineswegs sehr freiheitlich, vielmehr
immerhin in der Hand einer,„starken, zielbewußten“
Regierung noch sehr brauchbar, um die Presse
einer mißliebigen Partei zu treffen, zumal eine
oft kleinliche Rechtsprechung weit über den Geist
des Gesetzes hinaus die Presse einzuengen geeignet
ist. Besonders traurig gestaltete sich für die Presse
der Zentrumspartei die Zeit des sog. Kultur-
kampfes.
Seit dem Ende der 1870er Jahre wurde die
staatsanwaltliche Aufmerksamkeit auf ein anderes
Gebiet gelenkt. Das geschah durch das „Gesetz
gegen die gemeingefährlichen Bestre-
bungen der Sozialdemokratie“ vom
21. Okt. 1878. Anfangs nur bis 31. März 1881
gültig, wurde es später mehrmals (bis 1884,
1886, 1888, 1890) verlängert. Wie dasselbe auf
dem Gebiet des Versammlungs-, Vereins-, Frei-
zügigkeits-, Gewerbe= und des Vermögensrechts
eine Durchbrechung bisher maßgebender Grund-
sätze darstellte, so auch auf dem Gebiet des Preß-
rechts. Das Gesetz erlosch am 30. Sept. 1890.
Seitdem herrschen auf dem Gebiet des Preßrechts
im Deutschen Reich im allgemeinen wieder nor-
male Zustände. Leider können diese Zustände vom
Standpunkt der öffentlichen Sittlichkeit und noch
mehr vom Standpunkt des positiven Christentums
aus nicht als befriedigend bezeichnet werden. Viele
und schwere Ausschreitungen der Presse bleiben
ungeahndet. Doch ist nicht abzusehen, wie durch
gesetzliche Zwangsmaßregeln diese Zustände ge-
bessert werden können. Eine Gesundung kann
nur erweckt werden aus dem innern Pflicht= und
Rechtsbewußtsein der Angehörigen der Presse selbst
heraus sowie aus der allgemeinen Verbreitung
des Sinns für Gesetz und Recht, Sitte und Ord-
nung. — In jüngster Zeit ist der sog. fliegende
Gerichtsstand der Presse, welcher es ermög-
lichte, eine Zeitung an jedem Ort ihrer Verbrei-
tung unter Anklage zu stellen, durch das Gesetz
vom 13. Juni 1902 betr. die Abänderung des
§ 7 der Strafprozeßordnung im wesentlichen be-
seitigt worden. Eine bessere Reglung des Zeug-
niszwangs der Redakteure über die Personen
ihrer Mitarbeiter ist zu erwarten von der An-
nahme der neuen Fassung der Strafprozeßord-
nung, welche im Nov. 1909 dem Reichstag vor-
gelegt wurde.
Auch in Österreich hatte das Jahr 1848
zuerst die Beseitigung des Zensursystems und die
Freiheit der Presse, bald danach aber wieder eine
allmähliche Abbröcklung der gewährten Preß-
freiheit gebracht. Die kaiserliche Verordnung vom
6. Juli 1851 führte die administrative Verwar-
nung mit Einstellung der Zeitschrift ein. Die
Preßordnung vom 27. Mai 1852 brachte die
Presse usw.
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Kautions= und die Konzessionspflicht für Zeitungen
und Zeitschriften, hielt das Verwarnungssystem
sest und führte den Grundsatz der preßrechtlichen
Nachlässigkeit ein. Größere Freiheit gewährte
wieder das noch heute geltende Preßgesetz vom
17. Dez. 1862 nebst dem Gesetz über das Ver-
fahren in Preßsachen von demselben Tag. Es
folgten Gesetze, welche weiter gingen. Das Gesetz
vom 21. Dez. 1867 verbot allgemein die Zensur
und den Konzessionszwang für Zeitungen sowie
das administrative Postverbot für inländische
Druckschriften. Das Gesetz vom 16. Okt. 1868
schränkte das System der preßrechtlichen Nachläs-
sigkeit ein und beseitigte die strafweise Einstellung
von Zeitungen. Das Verfahren in Preßsachen er-
fuhr eine Verbesserung vom 9. März 1869. Das
Gesetz vom 29. März 1874 gewährte die Auf-
hebung der Inseratensteuer und des Zeitungs-
stempels, das Gesetz vom 9. Juli 1894 die Auf-
hebung der Zeitungskautionen. Eine einheitliche
Neureglung der gesamten Materie ist dringend
nötig. Im Juni 1902 legte die Regierung dem
Abgeordnetenhaus den Entwurf eines neuen
Preßgesetzes vor. Es dauerte bis 1906, daß der
Preßausschuß dem Abgeordnetenhaus seine Be-
schlüsse zu diesem Entwurf und seinen Bericht vor-
legen konnte. Zur Verabschiedung ist es infolge
der nationalen Stürme im Abgeordnetenhaus
bisher nicht gekommen. Der Regierungsentwurf
näherte sich in manchen Punkten dem deutschen
Reichspreßgesetz von 1874. Die Beschlüsse des
Preßausschusses sügten weitere freiheitliche Be-
stimmungen hinzu. Es wäre zu wünschen, daß der
Entwurf bald Gesetz würde.
Literatur. Bücher, Anfänge des Zeitungswesens,
in dessen Entstehung der Volkswirtschaft ((1906);
Wuttke, Die deutschen Zeitschriften u. die Ent-
stehung der öffentl. Meinung (1875); Salomon,
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u. Zeitungswesens (2 Bde, 1907/09).— Wehle, Die
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Walther, Deutsches Zeitungswesen der Gegenwart
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schaff, Praxis des Journalisten (1901); Jakobi,
Der Journalist, Bd VIII von Das Buch der Berufe
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(1902); Webel, Handlexikon der deutschen Presse
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Schweiz, Luxemburgs u. von Nordamerika (11909);
Keiters Kath. Literaturkalender, 10. Jahrg. (1909);
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evang. Buchhändler (1908). — Zenker, Gesch. der
Journalistik in Österreich (1900); Handbuch der
kath. Presse Osterreich-Ungarns (1907); Grünberg,
Jahrbuch der Schweizer Presse (1909). — Löbl,
Kultur u. Presse (1903); Wettstein, Die Tages-
presse in unserer Kultur (1903); ders., Über das