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der tiefsten Barbarei zum höchsten Wohlstand ge-
führt werden könne, ohne daß dazu in der Haupt-
sache etwas anderes erforderlich sei als Friede,
Mäßigkeit der Steuerlast und ausreichender Rechts-
schutz; alles andere ergebe sich aus dem natürlichen
Verlauf der Dinge ohne Eingreifen der Regie-
rung“. Ubrigens kommt die Idee der wirtschaft-
lichen Freiheit schon im Anfang des 18. Jahrh.
bei englischen und niederländischen Schriftstellern
vor; wenn von Entlehnungen die Rede sein soll,
so hätten also eher die Franzosen von den Eng-
ländern entlehnt. Natürlich beweist das alles nichts
für Smiths literarische Priorität. Quesnay
ist zwar erst 1756 zur Nationalökonomie über-
gegangen, während Smith schon 1749 zu Edin-
burgh ökonomische Fragen behandelte; aber als
1776 der Wealth of Nations erschien, bestand
bereits eine größere physiokratische Literatur.
Ubrigens hat Smith die Priorität nie beansprucht,
was schon daraus hervorgeht, daß er sowohl am
Merkantil-- als am (physiokratischen) Agrikultur-
system Kritik übt und ihnen seine Vermittlungs-
Smith.
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Zusammenhänge. Und die unbewußte Zweckmäßig-
keit vieler ökonomischer Vorgänge schließt nicht
aus, daß menschliche Fürsorge sie noch steigern
und besser ausnutzen kann. Jedenfalls ist die von
Smith so gepriesene prästabilierte Harmonie zwi-
schen Privatvorteil und Gemeinwohl eine schöne
Utopie. Wie für das Kind, so muß vielfach auch
für die Massen gesorgt werden. Recht hat Smith
allerdings darin, daß das Größte nur geleistet
wird, wo jede Kraft sich frei und voll entfalten
kann. Aber die Freiheit der Starken und Klugen
darf nicht die Unfreiheit der Schwachen und Ein-
fältigen bedeuten, denen nur der Schutz des Staats
ihre bescheidene Freiheit garantieren kann. Ein
Grundmangel der Smithschen Betrachtungsweise
ist eben der, daß er die wirtschaftlichen Tatsachen
als absolut selbständige, nur unter sich zusammen-
hängende, von den übrigen Lebensgebieten ge-
trennte Erscheinungen behandelt. Diese Vernach-
lässigung der Beziehungen zu viel wichtigeren
Gebieten, die Unterlassung der Begrenzung der
Berechtigung der rein ökonomischen Anschauungs-
theorie gegenüberstellt. Aber sicher ist, daß der weise mußte schließlich im Verein mit der Über-
Kern seiner Lehre völlig unabhängig entstanden schätzung der materiellen Güter zur materialistischen
ist, und daß er nur in Einzelheiten durch die Be-Geschichtskonstruktion von Marx und Engels
rührung mit den Physiokraten, wie auch leicht führen. Das ist es ja gerade, was wir vom christ-
erklärlich, direkte Anregungen erfahren hat. Neben= lichen Standpunkt — abgesehen von seiner ma-
sächlicher ist, daß er eine Reihe von Begriffen und terialistischen und sensualistischen Anschauung —
Termini, z. B. Gebrauchs= und Tauschwert, No= Smith hauptsächlich zum Vorwurf machen müssen,
minal= und Realpreis, Benennung der konsumier- daß er den Reichtum der Nation als Ziel der
baren Güter und dgl., von ihnen übernommen hat. Volkswirtschaft hinstellt: er beginnt seine Dar-
Wichtiger ist eine Reihe von andern Ubereinstim= stellung mit der Vermehrung der Güter durch
mungen, bei denen Smith möglicherweise der Arbeitsteilung, anstatt das Volkswohl zum
empfangende Teil gewesen ist. So der Gedanke, Ziel zu erheben und die Güterproduktion nur als
daß der Volksreichtum von der jährlichen Güter= Mittel zu behandeln. So viele Vorzüge man auch
produktion bestimmt wird und nicht eigentlich in in seiner Produktionstheorie erblicken mag, um so
den vorrätigen, als vielmehr in den stets neu er= unverzeihlicher ist die fast vollständige Vernach-
zeugten Mitteln besteht, wodurch die ganze Wirt- 1 lässigung der ebenso wichtigen Distributionstheorie,
schaft zu einem Lebensprozeß und ihre Tatsachen welche zu jener das notwendige Korrelat bildet.
zu Phasen im Produktionsverlauf werden; dann Ihm schwebt immer nur das Phantom des Na-
die Grundvorstellungen des Kapitalbegriffs; die tionalreichtums vor. Anstatt sich zu fragen, ob
Annahme, daß jede neue Produktion bedingt ist und wie der größte Teil der die Nation bildenden
durch die Verwendung der früher erzeugten; ferner Individuen mit ihrer Lage zufrieden sein kann,
die Erkenntnis, daß Lohn, Zins und Rente nicht bemißt er den Wohlstand nur nach dem Verhältnis
Ursachen des Preises, sondern selber Einkommens= der Summe des geschaffenen Reichtums zur Zahl
arten sind. Aber all das ist schließlich unbedeutend der Konsumenten; nach dem Prinzip des Laissez
neben der großen Leistung Smiths, das Wirt= aller ergab sich für ihn dann die bestmögliche Ver-
schaftsleben in organische Betrachtungsweise gerückt
zu haben.
Die Smithsche Nationalökonomie erscheint uns
heute — wie könnte es nach anderthalb Jahrhun-
derten anders sein! — unzulänglich, ja in den
wesentlichen Grundlagen überwunden. Wir glau-
ben vor allen Dingen nicht mehr an die natürliche
Zweckmäßigkeit der sich selbst überlassenen wirt-
schaftlichen Erscheinungen. Gewiß gibt es in ihnen
eine Gesetzmäßigkeit, so daß jeder Eingriff außer
der direkt intendierten noch andere Folgen hervor-
rufen wird; aber die planmäßige Reglung ist doch
nur die Frage vervollkommneter wissenschaftlicher
Erkenntnis aller im voraus zu berücksichtigender
teilung der Arbeitsprodukte auf die einzelnen von
selbst. Uber das persönliche Wohl und Wehe der
arbeitenden Schichten und die Mittel, ihre Lage
zu verbessern, über die Möglichkeit ihrer Einglie-
derung in die übrige Kulturwelt nachzudenken,
kam ihm gar nicht in den Sinn. Für ihn ist eben
der Arbeiter nur ein Produktionswerkzeug, und
es fragt sich lediglich, wie man diese Maschine mit
möglichst geringen Kosten möglichst lukrativ an-
wenden kann. Auf dieser Anschauung beruht seine
ganze Lohntheorie: Normallohn ist das Mini-
mum, das zur Aufrechterhaltung und Fortpflan-
zung der Arbeiterklasse ausreicht. Der Malthusia-
nismus und das eherne Lohngesetz sind damit