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nehmbaren Mannigfaltigen nach seinem Neben-
einander und Beieinander das volle dem Menschen
mögliche Verständnis des Weltgeschehens bietet,
sondern daß dieses erst dann erreicht wird, wenn
vermittels des gottgegebenen Vernunftlichts, d. h. an
der Hand der eigentümlichen Vernunftprinzipien,
die mechanische und teleologische Gesetzmäßigkeit
als solche anerkannt und als Widerschein vorbild-
licher göttlicher Urgedanken begriffen wird.
Indem nun Plato jenes Ideenreich gegenüber
der wechselnden Erscheinungswelt ontologisch als
das allein Seiende, d. h. nicht Werdende, sondern
Bestehende, ethisch als das allein wahrhaft Gute
wertet, ergibt sich ihm die Forderung, unter Hint-
ansetzung der Erscheinungswelt Denken und Wollen
allein dem Jenseitigen zuzuwenden. Darin liegt
einmal der religiöse Zug begründet, welcher der
Philosophie Platos und später dem erneuerten
Platonismus eigentümlich ist, und der seinen
schönsten Ausdruck in der Forderung des Dialogs
„Theätet“ (176 A) findet: möglichst schnell vom
Diesseits in das Jenseits zu fliehen durch Ver-
ähnlichung mit Gott in Weisheit, Gerechtigkeit
und Frömmigkeit. Ebenso haben aber auch die
wesentlichsten Mängel der Platonischen Denkungs-
art hier ihre Wurzel. Jener Gegensatz des Idealen
und des Empirischen wird von Plato allzuschroff
betont und zu sehr als ein ausschließender ge-
faßt. Damit verbindet sich die (vom späteren
Platonismus noch gesteigerte) Vorstellung, daß
das Körperliche als solches der Quell aller
Unordnung und des Bösen sei. Infolgedessen
wird der Philosoph verleitet, auf theoretischem
Gebiet die Bedeutung der Erscheinungswelt für
die Erkenntnis im allgemeinen und auch für die
Erkenntnis des über ihr Liegenden zu niedrig
einzuschätzen. Dem entspricht es, daß er auf dem
Gebiet des Wollens für ein aktives Eingreifen in
die tatsächlich gegebenen Verhältnisse die rechten
Mittel und Wege nur selten zu finden weiß und
dieses Streben selbst in übertriebenem Pessimis-
mus und falschem Quietismus bei den bestehenden
Zuständen zu schnell für aussichtlos und unratsam
ansieht. Daraus begreift sich auf dem theoretischen
Gebiet die geringe Pflege der naturhistorischen
und geschichtlichen Forschung seitens Platos, durch
deren ausgedehnteste Berücksichtigung später Ari-
stoteles von der Einseitigkeit des Platonischen
Standpunkts abgedrängt wurde, und ebenso
auf praktischem Feld die Ungeschicklichkeit und
Naivität, mit der Plato den Anforderungen des
wirklichen Lebens gegenübersteht. So ergibt sich
aus der Grundlehre des Platonischen Systems,
der Ideenlehre, der Platonische Idealismus mit
all seinen Vorzügen und Mängeln, jene Den-
kungsart, die wegen ihres erhabenen, um ge-
meine materielle Bedenken unbekümmerten ethi-
schen Hochflugs unsere warme Bewunderung her-
ausfordert, anderseits aber wegen ihrer jeder,
auch der notwendigen Rücksicht fremden Kon-
sequenz und ihrer praktischen Unbehilflichkeit dem
Staatslexikon. IV. 3. u. 4. Aufl.
Plato.
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Kenner des wirklichen Lebens leicht als leere
Träumerei erscheinen kann.
Seinen klaren Ausdruck findet dieser Idealis-
mus in der Staatsphilosophie Platos, insbeson-
dere in seinem Entwurf des Ideals eines besten
Staats. Für diese Staatsphilosophie kommen von
den Platonischen Dialogen, da der Staatsroman
„Kritias“ ein Fragment geblieben ist, besonders
in Betracht der „Staat“ oder die „Republik“
(Koyrela), der „Staatsmann" (noh)##rté4) und die
„Gesetze“ (Vôotot, leges).
Diejenige staatsphilosophische Schrift, in der
sich die ganze Eigenart Platos am allseitigsten
ausspricht und die durch ihre metaphysischen,
ethischen, soziologischen und erkenntnistheoretischen
Gedanken für die Folgezeit von größter Bedeu-
tung geworden ist, ist der „Staat“ (Politeia),
nach den „Gesetzen“ das umfassendste Werk Pla-
tos, dessen Entstehung vermutlich nicht in einem
Zug erfolgte, sondern in verschiedenen Schichten
durch eine Reihe von Jahren sich hinzog (so Fr.
Hermann, Krohn, Teichmüller, Usener, Rohde,
Pfleiderer, Immisch, Siebeck, Dümmler, Christ
u. a.; dagegen Zeller, Campbell, Hirmer, Luto-
stawski, Gomperz, Räder u. a.). Als ein groß-
artiger und umfassender Gedankenbau behandelt
die Schrift in vielfach verschlungener Entwicklung
das ethisch-politische Leben des einzelnen und der
Gemeinschaft (Inhaltsangaben von Räder, Pla-
tons philos. Entw. I1905] 181 ff und C. Ritter,
Platos Dialoge II 1, der Staat (1909.).
Zur philosophischen Behandlung des Staats-
problems wird Plato nicht durch das bei Aristo-
teles so lebhafte analytische Interesse einer Klassi-
fikation und genetischen Entwicklung des empirisch
gegebenen und in seiner konkret bedingten Eigen-
art zu würdigenden Wirklichen geführt. Auch die
rechtstheoretische Seite der Frage nach dem juristi-
schen Wesen des Staats — welch letzteren er sich,
wie es scheint, durch Einrichtung auf einer Ver-
sammlung entstanden denkt — ist ihm gleichgültig;
er bezeichnet ihn mit den üblichen Ausdrücken als
Gemeinschaft Ccorvola, 371 B) oder Verbindung
(6öv#e#opos, 520 A), ohne diese Begriffe staats-
rechtlich näher zu erklären. Ihn beschäftigt der
Staat nur nach der ethischen Seite. Konstruktiv“
und gesetzgeberisch sucht er eine Organisation zu
entwerfen, durch welche die Idee der Gerechtigkeit
in der sittlichen Gemeinschaft verwirklicht werden
könnte. Wenn Plato bei dieser Konstruktion —
in der Republik wie in den Gesetzen — nicht einen
Staat vom Umfang der orientalischen seiner Zeit
oder der modernen Staaten ins Auge faßt, sondern
(wie Aristoteles in den „Politika“) über den
Stadt= oder den Kantonalstaat nicht hinausgeht,
so liegt das in den griechischen Verhältnissen.
Jene organisierte sittliche Gemeinschaft aber hat
bei Plato im Prinzip nicht eine auf sie selbst be-
zogene und in ihr selbst sich vollziehende Aufgabe,
im Unterschied von den durch die Individualethik
gesorderten Pflichten der einzelnen. Seine ethische
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