Full text: Staatslexikon. Fünfter Band: Staatsrat bis Zweikampf. (5)

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gewollte Wirkungen nur zu häufig den Streiks 
auf dem Fuß folgen. Mit der Arbeitslosigkeit des 
Streikenden zieht in der Regel in die Arbeiter- 
familie die Not ein, die zur wahren Hungersnot 
werden kann. Zudem erleidet die Arbeiterfamilie 
schwere ideale Verluste, wenn drückende Sorge, 
Unzufriedenheit, Unfrieden das Familienleben 
stören. Die kleinen Geschäftsleute, die häufig auf 
die Arbeitermassen angewiesen sind, verlieren ihre 
kaufkräftigen Kunden. Den Unternehmern werden 
ebenso wie den Abnehmern und Konsumenten zahl- 
reiche Verlegenheiten bereitet. Die soziale Kluft 
zwischen Besitzenden und Arbeitenden erweitert und 
vertieft sich, da infolge des Kampfes Haß und Er- 
bitterung sich tiefer in der Seele festsetzen. Aber all 
diese Nachteile beweisen doch nur, daß einzelne, be- 
grenzte Volkskreise zeitweilig unter den Folgen eines 
Streiks zu leiden hatten, nicht aber daß die Streiks 
in ihrer Gesamtheit für die ganze Arbeiterschaft 
unnütz gewesen wären, oder daß sie der gesamten 
Arbeiterschaft mehr Schaden als Nutzen gebracht 
hätten. Der Vorteil, daß der Arbeiterstand heute 
durchweg einer höheren Lebenshaltung sich erfreut 
und eine menschenwürdige soziale Stellung ein- 
nimmt gegenüber den allen christlichen Grundsätzen 
Hohn sprechenden Verhältnissen einer liberal- 
manchesterlichen Periode, ist neben andern Mo- 
menten auch der Tatsache zu verdanken, daß die 
Arbeiter sich ihres Koalitions- und Streikrechts 
bedient haben. In dieser Beurteilung sind die 
angesehensten Nationalökonomen und Wirtschafts- 
historiker einig. Bemerkenswert ist das Urteil G. 
Schmollers: „Mögen durch die Ausstände beiden 
Teilen große Schädigungen zugefügt worden sein, 
mag häufig das Publikum durch erhöhte Preise 
am meisten gelitten haben, so dürften doch die 
unteren Klassen und die Volkswirtschaft sich heute 
in schlechterer Lage befinden, wenn wir gar keine 
Koalitionsfreiheit erhalten, gar keine Ausstände 
erlebt hätten. Die ersteren hätten in der Zeit von 
1850 bis 1900 um Milliarden weniger Löhne 
eingenommen, sie ständen an Lebenshaltung und 
Leistungsfähigkeit heute sicher tiefer, wofür eine 
Anzahl etwas billigerer Warenpreise kein Ersatz 
wäre; die Unternehmer hätten heute ohne Zweifel 
lechnisch und sozial rückständigere Betriebseinrich- 
lungen; häufig knüpfte der größte technische Fort- 
schritt gerade an Ausstände an. Wir werden sagen 
müssen: so ungeheure soziale Anderungen, wie die 
Volkswirtschaft und die ganze Gesellschaftsordnung 
seit hundert Jahren erlebt, seien nicht ohne Krisen 
und Krankheiten möglich gewesen; der übermäßige 
Dampf mußte entweichen; ohne das Ventil der 
Koalitionsfreiheit hätte er viel zerstörender ge- 
wirkt“ (Allg. Volkswirtschaftslehre II 407). 
III. Generalstreik. Da in den letzten Jahren 
namentlich in sozialistischen Kreisen der General- 
streik vielfach Gegenstand von Debatten war, so 
sei er auch hier kurz erörtert. Das Wort General= 
streik wird in verschiedenem Sinn verstanden. Man 
denkt naturgemäß dabei zunächst an einen Streik, 
Streik usw. 
  
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der sich durch eine möglichst allgemeine Aus- 
dehnung, sei es auf ein ganzes Gewerbe, sei es 
auf ein ganzes Land auszeichnet. Indes bei den 
Generalstreikdebatten der letzten Jahre dachte man 
weniger an einen Streik von besonderer Aus- 
dehnung als an einen Streik aus besondern Grün- 
den und mit besondern Zielen. Der Streik, der 
die politischen Verhältnisse bewußt beeinflussen 
will, sich also direkt gegen den Staat wendet, ist 
ein Generalstreik, den man richtiger politischen 
Massenstreik nennt. Der gewöhnliche Streik sieht 
es auf einen ökonomischen Vorteil der Arbeiter 
ab, hat allerdings in gewissen Fällen auch auf die 
politische Lage der Arbeiterschaft eine nicht direkt ge- 
wollte Wirkung, wiez. B.ein Massenstreik der Berg- 
arbeiter. Im Generalstreik aber schwebt den Strei- 
kenden ein politischer Vorteil als Ziel vor Augen, 
in den meisten Fällen Erringung oder Verbesserung 
des Wahlrechts; radikal-revolutionäre Theoretiker 
stellen auch die Zersprengung des Klassenstaats, 
die Diktatur des Proletariats als Ziel hin. Ein 
solcher Streik wird auch durch Arbeitsniederlegung 
bewirkt und trifft unmittelbar die Unternehmer; 
aber auch der Staat ist in Mitleidenschaft gezogen. 
Denn es werden in der Regel solche Produktions- 
zweige stillgelegt, ohne die das Gemeinwohl längere 
Zeit nicht aufrechterhalten werden kann. Auch 
eine gewisse Ausdehnung beim Generalstreik macht 
die Lage der Gesamtheit bedrohlich. So ist also 
die Gesellschaft wie der Staat, der Hüter der Ge- 
samtwohlfahrt und allgemeinen Ordnung, durch 
den Generalstreik bedroht. Der Generalstreik wird 
entweder in der mehr friedlichen Form des De- 
monstrations= oder Manifestationsstreiks durch- 
geführt oder als Pressionsstreik. In der ersteren 
Form will das Proletariat durch Arbeitsnieder- 
legung, Massenumzüge und andere Demonstratio- 
nen den politischen Machthabern nachdrücklich das 
Begehren der Massen zum Bewußtsein bringen 
und zugleich auf die Psyche der Gesamtheit drohend 
wirken. Beim Pressionsstreik dagegen soll der 
Staat direkt zu einer Konzession genötigt werden; 
er muß daher auch so lange währen, bis der Staat 
oder die Streikenden nachgeben, während der Ma- 
nifestationsstreik gewöhnlich von vornherein auf 
wenige Tage beschränkt wird. — Die General- 
streikidee hat am meisten Nahrung und Förderung 
gefunden in anarchistischen Kreisen. Innerhalb 
des deutschen und ausländischen Sozialismus war 
und ist man verschiedener Meinung. Die einen 
sehen in dem Generalstreik den idealen Ausdruck 
des Klassenkampfes, ein Mittel, die Umwälzung 
der heutigen Wirtschaftsordnung in die sozialisti- 
sche herbeizuführen; andere bezeichnen ihn als 
Waffe im Emanzipationskampf, die unter Um- 
ständen einmal gebraucht werden kann; wieder 
andere befürworten lediglich den Demonstrations= 
streik; die freien Gewerkschaften endlich lehnen den 
Generalstreik in jeder Form und unter allen Um- 
ständen ab. Die Bezeichnungen des Generalstreiks 
als Generalunsinn, Illusion, Traum, Utopie, 
 
	        
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