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fasser will das „Religions- und Regimentswesen“
dieses Königreichs schildern. Was das erstere be-
trifft, so beruht das Bekenntnis der Einwohner
einzig auf der Schrift. (Der Verfasser ist also
Protestant.) In der exemten Stadt Kadoschah ist
ein Kirchenrat, aus geistlichen und weltlichen Mit-
gliedern bestehend. Diese Behörde hat auch die
Bücherzensur. Der Staat ist durchaus religiös.
Was das „Regimentswesen“ angeht, so ist Ophir
ein Wahlkönigreich. Der König wird als ein
Ideal ohnegleichen gezeichnet. Alle denkbaren
Tugenden vereint er in sich. Eine Menge von
Gesetzen wird mitgeteilt: Religions-, Armen-,
Luxus= und Reisegesetze. Niemand darf eine andere
Religion beschimpfen; bei Gelagen darf über Re-
ligion überhaupt nicht disputiert werden; wer da-
mit anfängt, erhält einen Monat Zuchthaus.
Sonntagsschändung wird mit einem Jahr Zucht-
haus bestraft. Wer zum drittenmal rückfällig einen
Diebstahl begeht, wird lebenslänglich ins Zucht-
haus gesperrt. Wer einen andern zum Zweikampf
herausfordert, muß sein Lebtag einen hölzernen
Säbel und eine Narrenkappe tragen, eine Ehren-
strafe, die auch auf seine Kinder ausgedehnt wird.
Ist er von Adel, so bekommt er einen geschlossenen
Helm auf sein Wappen mit einem Paar Brillen-
gläser und als Schildträger zwei Katzen usw. —
übrigens streifen auch die zahlreichen Robinsonaden
mit ihrer Schilderung der Anfänge menschlicher
Kultur und Gesellschaftsgründung das Gebiet der
Staatsromane, und die weitaus bedeutendste aller
deutschen Robinsonaden, die „Insel Felsen-
burg“ (4 Bde, zwischen 1731 u. 1743), die der
Stolbergische Hofagent Johann Gottfried Schnabel
unter dem Namen Gisander herausgab, mündet
direkt in die Schar der Staatsromane ein; denn
sie schildert die glückseligen Zustände im Gemein-
wesen der paradiesischen Insel Felsenburg, auf der
weder religiöser Hader noch sozialer Gegensatz,
weder Armut noch Luxus zu finden sind. Im
letzten Drittel des 18. Jahrh. wurden die Staats-
romane in Deutschland wieder in Aufnahme ge-
bracht durch Hallers Romane „Usong“ (Bern
1771), „Alfred, König der Angelsachsen“ (ebd.
1773) und „Fabius und Cato“ (ebd. 1774), in
denen die Despotie bzw. die beschränkte Monarchie
und die aristokratische Republik geschildert wurden.
Der namhafteste Utopist der Aufklärungszeit ist
Morelly, der die Schriften erscheinen ließ:
Naufrage des iles flottantes ou Basiliade du
céebre Piülpai (2 Bde, Messina 1753) und
Code de la nature (Amsterdam 1755, n. A.
Paris 1841). Die Basiliade ist ein in Prosa ge-
schriebenes Heldengedicht, das im fernen Indien
spielt. Vom Festland sind durch einen Orkan
ganze Gebietsstrecken abgetrennt worden, die als
schwimmende Inseln samt ihren Bewohnern auf
dem Meer dahintreiben. Nur zwei unschuldige
Kinder, Bruder und Schwester, sind auf dem Fest-
land zurückgeblieben, und diese werden nun zu
Stammeltern eines glücklichen Volks. Zwar ent-
Staatsromane.
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führen die wilden Bewohner der schwimmenden
Inseln den Herrscher Zeingemin; aber durch einen
neuen Sturm werden die schwimmenden Inseln
dem Festland wieder zugetrieben; Zeingemin kehrt
auf das Festland zurück und mit ihm die andern
Bewohner der schwimmenden Inseln, die nun
gleichfalls Glieder des glücklichen Volks werden.
Eigentümlich ist es, daß in diesem Roman nach
dem Geschmack der Zeit auch allegorische Figuren
auftreten; vor allem Natur und Wahrheit, ferner
die Liebe, die Lüge, die Schmeichelei, die Grau-
samkeit und andere Laster. Der Code de la na-
ture legt dann dar „die ewigen Gesetze der Na-
tur“, welche die Bedingungen des Volksglücks
sind. Das unabänderliche Grundgesetz ist dieses,
daß nichts in der Gesellschaft im Privatbesitz als
Eigentum des einzelnen stehe, daß jeder Bürger
dem Staat gehöre und auf Kosten der Gesamtheit
unterhalten und beschäftigt werde, und daß jeder
Bürger nach seinen Kräften, seinen Anlagen und
seinem Alter zum allgemeinen Wohl beitragen
müsse. In jedem Produktionszweig werden aus
den erfahrensten Arbeitern für 5/10 Arbeiter
„Werkmeister“ auf je fünf Tage, und für 10/20
Arbeiter „Meister“ auf Lebenszeit bestellt. Jeder
Bürger, der ins heiratsfähige Alter eintritt, wird
verheiratet. Den über 40 Jahre Alten wird Ehe-
losigkeit gestattet. Die erste Ehe ist für die ersten
zehn Jahre unauflöslich, dann kann Scheidung
und Wiederverehelichung stattfinden. Die Kinder
werden gemeinschaftlich erzogen. Vom zehnten
Jahr an wird ihnen Unterricht im Gewerbe er-
teilt, zwischen dem 15. und 18. Jahr folgt die
Heirat, vom 20. bis 25. Jahr wird jeder Mann in
der Landwirtschaft beschäftigt; mit dem 26. Jahr
wird er Meister; vom 40. Jahr an ist er nur mehr
freiwilliger Arbeiter. Die höchste Gewalt liegt bei
dem obersten Senat der Nation, der in der Weise
zusammengesetzt ist, daß jede Stadt zwei oder mehr
Delegierte ihres Sondersenats in den National-
senat entsendet. Was den religiösen Unterricht be-
trifft, so wird Gott als die allgütige Endursache
aller Dinge hingestellt, ohne daß man jedoch den
Kindern irgendwelche Vorstellungen von diesem
Wesen und von seinen Eigenschaften beizubringen
sucht. Ebenso wird hervorgehoben, daß wir über
die Natur unserer Seele, namentlich über etwaiges
Fortleben nach dem Tod nichts wissen, und daß
es überflüssig sei, über derartige Dinge nach-
zugrübeln. Noch andere Staatsromane haben in
der Aufklärungszeit, in welcher wir stehen, das
Licht der Welt erblickt, die aber von geringerer
Bedeutung sind. Dazu gehören: La république
des philosophes ou T’histoire des Ajaviens
(Genf 1768), deren Verfasser unbekannt ist; dann
La découverte australe par un homme volant
(4 Bde, Paris 1781; deutsch von Mylius, Leipzig
1784) von Rétif de la Brétonne, worin der Ideal-
staat auf eine Insel der Südsee verlegt wird, wo-
hin von „Victorin“ und seiner Familie, die die
Kunst des Fliegens besitzen, vom Dauphiné aus