Full text: Staatslexikon. Fünfter Band: Staatsrat bis Zweikampf. (5)

499 Toleranz. 500 
4. Man kann oft die ängstliche Frage hören: dings kaum stellen; denn nach Ausweis der Ge- 
Könnte die Kirche aber nicht die alten Ketzergesetze schichte sind mehr als einmal hohe Kulturen unter- 
als „latentes Recht“ einstweilen bloß auf dem gegangen und vom plötzlich einreißenden Strom 
Fechtboden ruhen lassen, um sie bei günstiger hereinbrechender Barbarei hinweggeschwemmt wor- 
Gelegenheit wieder hervorzuholen und den unter- 
brochenen Vernichtungskampf von neuem aufzu- 
nehmen? Darauf ist ein Dreifaches zu erwidern. 
Erstens: Nicht die Kirche hat die Ketzertötung er- 
funden oder inanguriert oder jemals befohlen, 
sondern der Staat. Mit der Zertrümmerung des 
römisch-mittelalterlichen Glaubensstaats aber ist 
die weltliche Strafgesetzgebung gegen Ketzer von 
selbst mit in der Versenkung verschwunden. Einer 
ausdrücklichen Widerrufung dieser Gesetze bedarf 
es ebensowenig wie bei den durch die ganze neuere 
Wirtschaftsentwicklung gegenstandslos gewordenen 
„Wuchergesetzen“. Solange also der Staat keine 
neuen Strafgesetze gegen die (formelle) Häresie 
mehr erläßt, ebensolange gibt sich die Kirche mit 
ihren rein geistlichen Strafen (ohne bürgerliche 
Wirkungen) zufrieden, auf deren Verhängung sie 
freilich ein unveräußerliches Recht behält. Auch 
im Glaubensstaat hat niemals die Kirche selbst die 
Todesstrafe verhängt, geschweige durch ihre Diener 
vollstrecken lassen, sondern grundsätzlich übergab 
sie den überführten Häretiker dem „weltlichen 
Arm“, um ihn nach gemeinem Recht aburteilen 
und bestrafen zu lassen, wie selbst Hinschius ge- 
steht: „Die Kirche als solche hat daran fest- 
gehalten, daß sie dergleichen Strasen weder anzu- 
drohen noch zu verhängen habe, insbesondere aber 
den Klerikern jede Ausübung der Kriminalgerichts- 
barkeit und Mitwirkung bei derselben verboten, ja 
sogar auch die bloße Billigung der Vollstreckung 
durch einen Geistlichen, namentlich einen Bischof, 
und Anwesenheit bei derselben. Formell hat die 
Kirche diesen Standpunkt auch bei ihren Bestre- 
bungen, die Ketzerei zu unterdrücken, gewahrt"“ 
(System des kathol. Kirchenrechts V/(1895) 50). 
Gegen die Fiktion, als ob die Kirche das sog. jus 
gladii besitze, s. J. Pohle a. a. O. 236 f. — 
Zweitens: In allen Staaten besitzen die Akatholiken 
heute ein wohlerworbenes, verbrieftes Recht auf 
Existenz und Glaubensfreiheit. Nach der katho- 
lischen Moral müssen aber alle Rechte, namentlich 
auch das Recht auf Religionsfreiheit, nicht nur 
vom Staat, sondern auch von der Kirche selbst 
als heilige Gewissenssache respektiert und geschützt 
werden; denn Vertrags- und Treuebruch wäre der 
Ruin der menschlichen Gesellschaft. Die Kirche 
darf die ewigen Moralgesetze ebensowenig durch- 
brechen oder durchbrechen helfen wie die unver- 
änderlichen Glaubensgesetze (s. Hergenröther, Ka- 
tholische Kirche und christlicher Staat (1872) 
643). — Drittens: Nachdem die Strafbestim- 
mungen früherer Jahrhunderte durch Nichtgebrauch 
und Veraltung rechtskräftig abgeschafft sind, kann 
die einzige Frage nur die sein: Ist ein zukünftiger 
den. Nur eines können wir sagen: An uns selbft 
liegt es, durch gewissenhafte Mitarbeit an der 
Kultur und Gesittung, durch Verfeinerung der 
menschlichen Gefühle, durch pädagogische Pflege 
und Ausbildung des kindlichen Gemüts in der 
Schule, durch Ausprägung der milden und sanften 
Züge Christi im bürgerlichen, staatlichen und 
religiösen Leben, endlich durch Hochhaltung und 
Einschärfung der philanthropischen Gesetze die 
Wiederkehr mittelalterlicher, gefühlsroher Rechts- 
einrichtungen zu erschweren, ja unmöglich zu 
machen. Es handelt sich um eine bloße Frage der 
Zivilisation, nicht des Rechts. So utopisch die 
Furcht ist, daß jemals ein zweiter Calvin erstehen 
wird, der einen Servet auf dem Scheiterhaufen 
verbrennt, ebenso müßig ist der Gedanke, es werde 
ein neuer Glaubensstaat entstehen, der dem häß- 
lichen Leichnam veralteter Zuchtmittel neues Leben 
einbläst. Gegenüber neueren Versuchen, die ersten 
Toleranzgedanken schon bei den Reformatoren 
selbst, namentlich bei Martin Luther, vorzufinden, 
hat selbst der protestantische Kirchenhistoriker W. 
Köhler unlängst betont: „Bei Luther kann von 
Gewissens= und Religionsfreiheit nicht geredet 
werden“ (Reformation und Ketzerprozeß (19011 
41). Wenn v. Schultheß -Rechberg neuerdings 
meint: „Im Prinzip ist Luther durchaus tole- 
rant“ (Luther, Zwingli und Calvin in ihren 
Ansichten über das Verhältnis von Staat und 
Kirche (1909] 164), so hat dagegen N. Paulus. 
einer der besten Kenner des Reformationszeitalters, 
den überzeugenden Beweis dafür angetreten, daß 
Lther schon seit 1521 den Katholiken keine Ge- 
wissensfreiheit zugestanden, seit 1530 aber für 
neugläubige Ketzer sogar die Todesstrafe befür- 
wortet hat (s. Wissenschaftl. Beilage der Germonia 
19J10, Nr 12/13; vgl. Hist.-polit. Blätter CXIV 
(1910) 177 ff 243 ff). Unsere moderne Toleranz 
verdankt ihren Ursprung ganz andern Ursachen, 
unter denen in erster Linie die allmähliche Sälu- 
larisation der Staatsidee, in zweiter Reihe aber 
der mächtige Einfluß der humanistischen Natur- 
rechts- und Staatslehre sowie der durch die Re- 
naissance entfesselte, noch lange Zeit kräftig nach- 
wirkende Freiheitsdrang der Völker zu nennen sind. 
IV. Die politische Loleranz des Staats. — 
Weil der Staat weder als Empfänger und Träger 
götllicher Offenbarungen noch als Lehrer und Ver- 
breiter der christlichen Religion sich gebärden darf, 
so erhellt, daß in Sachen der Religion „der um- 
sassende Staat sich weiter öffnen wird als die in 
ihrer Lehre sich abschließende Kirche“ (Trendelen- 
burg, Naturrecht auf dem Grund der Ethik :1861) 
396). Die sittliche Erlaubtheit, ja Pflichtmäßig- 
  
Rücksall in den Zustand strafrechtlicher Barbarei, keit der staatlichen Gewährung von Toleranz und 
wie Folter und Scheiterhausen, wahrscheinlich Religionsfreiheit richtet sich nach den konkreten 
oder nicht? Eine sichere Prognose läßt sich aller= Umständen und historischen Bedingungen, unter
	        
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