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4. Man kann oft die ängstliche Frage hören: dings kaum stellen; denn nach Ausweis der Ge-
Könnte die Kirche aber nicht die alten Ketzergesetze schichte sind mehr als einmal hohe Kulturen unter-
als „latentes Recht“ einstweilen bloß auf dem gegangen und vom plötzlich einreißenden Strom
Fechtboden ruhen lassen, um sie bei günstiger hereinbrechender Barbarei hinweggeschwemmt wor-
Gelegenheit wieder hervorzuholen und den unter-
brochenen Vernichtungskampf von neuem aufzu-
nehmen? Darauf ist ein Dreifaches zu erwidern.
Erstens: Nicht die Kirche hat die Ketzertötung er-
funden oder inanguriert oder jemals befohlen,
sondern der Staat. Mit der Zertrümmerung des
römisch-mittelalterlichen Glaubensstaats aber ist
die weltliche Strafgesetzgebung gegen Ketzer von
selbst mit in der Versenkung verschwunden. Einer
ausdrücklichen Widerrufung dieser Gesetze bedarf
es ebensowenig wie bei den durch die ganze neuere
Wirtschaftsentwicklung gegenstandslos gewordenen
„Wuchergesetzen“. Solange also der Staat keine
neuen Strafgesetze gegen die (formelle) Häresie
mehr erläßt, ebensolange gibt sich die Kirche mit
ihren rein geistlichen Strafen (ohne bürgerliche
Wirkungen) zufrieden, auf deren Verhängung sie
freilich ein unveräußerliches Recht behält. Auch
im Glaubensstaat hat niemals die Kirche selbst die
Todesstrafe verhängt, geschweige durch ihre Diener
vollstrecken lassen, sondern grundsätzlich übergab
sie den überführten Häretiker dem „weltlichen
Arm“, um ihn nach gemeinem Recht aburteilen
und bestrafen zu lassen, wie selbst Hinschius ge-
steht: „Die Kirche als solche hat daran fest-
gehalten, daß sie dergleichen Strasen weder anzu-
drohen noch zu verhängen habe, insbesondere aber
den Klerikern jede Ausübung der Kriminalgerichts-
barkeit und Mitwirkung bei derselben verboten, ja
sogar auch die bloße Billigung der Vollstreckung
durch einen Geistlichen, namentlich einen Bischof,
und Anwesenheit bei derselben. Formell hat die
Kirche diesen Standpunkt auch bei ihren Bestre-
bungen, die Ketzerei zu unterdrücken, gewahrt"“
(System des kathol. Kirchenrechts V/(1895) 50).
Gegen die Fiktion, als ob die Kirche das sog. jus
gladii besitze, s. J. Pohle a. a. O. 236 f. —
Zweitens: In allen Staaten besitzen die Akatholiken
heute ein wohlerworbenes, verbrieftes Recht auf
Existenz und Glaubensfreiheit. Nach der katho-
lischen Moral müssen aber alle Rechte, namentlich
auch das Recht auf Religionsfreiheit, nicht nur
vom Staat, sondern auch von der Kirche selbst
als heilige Gewissenssache respektiert und geschützt
werden; denn Vertrags- und Treuebruch wäre der
Ruin der menschlichen Gesellschaft. Die Kirche
darf die ewigen Moralgesetze ebensowenig durch-
brechen oder durchbrechen helfen wie die unver-
änderlichen Glaubensgesetze (s. Hergenröther, Ka-
tholische Kirche und christlicher Staat (1872)
643). — Drittens: Nachdem die Strafbestim-
mungen früherer Jahrhunderte durch Nichtgebrauch
und Veraltung rechtskräftig abgeschafft sind, kann
die einzige Frage nur die sein: Ist ein zukünftiger
den. Nur eines können wir sagen: An uns selbft
liegt es, durch gewissenhafte Mitarbeit an der
Kultur und Gesittung, durch Verfeinerung der
menschlichen Gefühle, durch pädagogische Pflege
und Ausbildung des kindlichen Gemüts in der
Schule, durch Ausprägung der milden und sanften
Züge Christi im bürgerlichen, staatlichen und
religiösen Leben, endlich durch Hochhaltung und
Einschärfung der philanthropischen Gesetze die
Wiederkehr mittelalterlicher, gefühlsroher Rechts-
einrichtungen zu erschweren, ja unmöglich zu
machen. Es handelt sich um eine bloße Frage der
Zivilisation, nicht des Rechts. So utopisch die
Furcht ist, daß jemals ein zweiter Calvin erstehen
wird, der einen Servet auf dem Scheiterhaufen
verbrennt, ebenso müßig ist der Gedanke, es werde
ein neuer Glaubensstaat entstehen, der dem häß-
lichen Leichnam veralteter Zuchtmittel neues Leben
einbläst. Gegenüber neueren Versuchen, die ersten
Toleranzgedanken schon bei den Reformatoren
selbst, namentlich bei Martin Luther, vorzufinden,
hat selbst der protestantische Kirchenhistoriker W.
Köhler unlängst betont: „Bei Luther kann von
Gewissens= und Religionsfreiheit nicht geredet
werden“ (Reformation und Ketzerprozeß (19011
41). Wenn v. Schultheß -Rechberg neuerdings
meint: „Im Prinzip ist Luther durchaus tole-
rant“ (Luther, Zwingli und Calvin in ihren
Ansichten über das Verhältnis von Staat und
Kirche (1909] 164), so hat dagegen N. Paulus.
einer der besten Kenner des Reformationszeitalters,
den überzeugenden Beweis dafür angetreten, daß
Lther schon seit 1521 den Katholiken keine Ge-
wissensfreiheit zugestanden, seit 1530 aber für
neugläubige Ketzer sogar die Todesstrafe befür-
wortet hat (s. Wissenschaftl. Beilage der Germonia
19J10, Nr 12/13; vgl. Hist.-polit. Blätter CXIV
(1910) 177 ff 243 ff). Unsere moderne Toleranz
verdankt ihren Ursprung ganz andern Ursachen,
unter denen in erster Linie die allmähliche Sälu-
larisation der Staatsidee, in zweiter Reihe aber
der mächtige Einfluß der humanistischen Natur-
rechts- und Staatslehre sowie der durch die Re-
naissance entfesselte, noch lange Zeit kräftig nach-
wirkende Freiheitsdrang der Völker zu nennen sind.
IV. Die politische Loleranz des Staats. —
Weil der Staat weder als Empfänger und Träger
götllicher Offenbarungen noch als Lehrer und Ver-
breiter der christlichen Religion sich gebärden darf,
so erhellt, daß in Sachen der Religion „der um-
sassende Staat sich weiter öffnen wird als die in
ihrer Lehre sich abschließende Kirche“ (Trendelen-
burg, Naturrecht auf dem Grund der Ethik :1861)
396). Die sittliche Erlaubtheit, ja Pflichtmäßig-
Rücksall in den Zustand strafrechtlicher Barbarei, keit der staatlichen Gewährung von Toleranz und
wie Folter und Scheiterhausen, wahrscheinlich Religionsfreiheit richtet sich nach den konkreten
oder nicht? Eine sichere Prognose läßt sich aller= Umständen und historischen Bedingungen, unter