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(1907); Burnichon, Le Brésil d’aujourd ’hui
1910). [Sägmüller.]
Trunksuchtsbekämpfung. Trunk-
sucht im engeren Sinn ist die übermäßige
Hingabe an den Genuß berauschender Getränke;
sie ist entweder chronisch (Trunkfälligkeit, Trinker)
oder periodisch (Dipsomanie, Quartalstrinker);
den akuten Fall nennen wir Trunkenheit (Be-
rauschung). Trunksucht in diesem Sinn ist eine
individuelle Sache, die aus unbeherrschter Be-
gierde hervorgeht und daher moralisch zu werten
ist, wenngleich nicht verkannt werden soll, daß bei
einzelnen auch krankhafte Affektionen (besonders
pathologischer Art) mitwirken und daß vor allem
die chronische Trunksucht allmählich in Krankheit
übergeht.
Trunksucht im weiteren Sinn (Al-
koholismus) bezeichnet daneben alle jene Ver-
hältnisse und Einrichtungen, die das übermäßige
Trinken begünstigen und befördern; so ist sie ein
soziales übel und hat ihren Nährboden vor
allem in falschen Anschauungen und den herrschen-
den Trinksitten.
I. Von jeher haben Menschen Genuß in der
Berauschung gesucht, sei es durch Einatmen, Ein-
spritzen oder Rauchen von entsprechenden Stoffen
(Opium, Morphium) oder vor allem durch alkohol-
haltige Getränke. Alkohol bezeichnet eine größere
Zahl von organischen Verbindungen (Methyl-,
Athyl-, Propyl-, Butyl-, Amylalkohol), welche
aus Kohlenstoff, Wasserstoff und Sauerstoff be-
stehen und sich entweder fertig in der Natur finden
oder als Produkte geistiger Gärung des Zuckers
— Spaltung in Alkohol und Kohlensäure unter
Einwirkung gewisser Spaltpilze — auftreten. Er
wird meist gewonnen entweder aus zuckerhaltigen
Pflanzensäften (Weinbeeren, Zuckerrohr-, Zucker-
rüben, Apfel-, Zwetschensaft usw.) oder zuckerigen
Flüssigkeiten, die aus stärkehaltigen Pflanzenteilen
(Getreidesamen, Kartoffelknollen) hergestellt wur-
den. Durch Destillation vergorener Säfte (ab-
dampfen mit folgender Abkühlung) erhält man
gebrannte Getränke (hauptsächlich Branntwein
und Liköre), die bedeutend stärkeren Alkoholgehalt
haben (40—70%); der reine 100 /ige Alkohol
wird Spiritus oder Weingeist genannt;z er ist
wasserhell, flüchtig, leicht brennend. Während die
älteste Zeit nur gegorene Getränke kennt, lernte
man um das Jahr 800 in Spanien auch die De-
stillation, wodurch der Alkoholgenuß bedeutend
verbreitet wurde. Zu einem Volksübel ward er
erst mit dem Auskommen der Kartoffel und des
Kartoffelbranntweins.
Um 1840 hatte Berlin (bei 304000 Einwohnern)
einen Branntweinkonsum von 5¼ Mill. Quart
(à 1,15 1) im Wert von 600 000 Taler, ganz
Norddeutschland (bei 20 Mill. Einw.) von 367
Mill. Auf den Kopf der Bevölkerung kamen in
Preußen 175/, in Hannover 217„„ in Hamburg
24 Flaschen. Die Mäßigkeitsbewegung brachte dann
den Branntweingenuß stark zurück, doch stieg dafür
Trunksuchtsbekämpfung.
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der Biergenuß. Auch heute überwiegt dieser in
Deutschland neben ganz ansehnlichem Branntwein-
und geringerem Weingenuß. Im Durchschnitt der
letzten Jahre entfielen auf den Kopf der Bevölkerung
1161 Bier, 81 Branntwein und 7,31 Wein; 1890
waren die entsprechenden Zahlen 105,9, 9,4 und
7,1. An Biergenuß wird Deutschland übertroffen
von Belgien (ca 210 1) und Großbritannien mit
Irland (ca 125 1 auf den Kopf), im Branntwein-
konsum von Dänemark (14 1) und Österreich-Un-
garn (11 1), an Wein ganz erheblich von Italien
(ca 175 1) und Frankreich (ca 160 1). Nach der
Gesamtmenge der genossenen alkoholischen Ge-
tränke steht Belgien weit voran (über 220 l;
es folgen (mit 100,200 1) Großbritannien und Ir-
land, Schweiz, Deutschland, Italien, Frankreich,
Dänemark; die nordischen Ländern stehen im all-
gemeinen am günstigsten da. Fragen wir aber nach
der Menge des genossenen Alkohols — die ein-
zelnen Getränke enthalten ja verschieden viel da-
von —, so steht Frankreich in erster Reihe (etwa
171 pro Kopf); es folgen Italien (14), Belgien
(13), Schweiz (12), Dänemark (11), Deutschland
(fast 10); nach einer umfassenderen älteren Statistik
1891/95 war die Reihenfolge: Frankreich (16,4),
Belgien (12,6), Spanien (12), Schweiz (11,2),
Dänemark (10,9), Italien (10,3), Portugal (10,1),
Deutschland (9,3). Die absoluten Zahlen sind für
Deutschland 1907/08: 3,981 Mill. hl Branntwein
(1,592 zu gewerblichen Zwecken) und 73,461 Mill. hl
Bier (48,46 im norddeutschen Brausteuergebiet,
15,95 in Bayern, 3,97 in Württemberg, 3,26 in
Baden); dazu kommen rund 3,7 Mill. hl Wein.
Insgesamt gibt der Deutsche bei niedrigem Ansatz
für Alkoholika rund 45 M jährlich aus; das macht
für das ganze Land fast 3 Milliarden (andere Be-
rechnungen kommen auf fast 4 Milliarden). Zur
Gewinnung dieser Massen von alkoholischen Ge-
tränken dienen u. a. 2,7 Mill. h! Weinmost von
116 768 ha Weinland (am meisten in Elsaß-Loth-
ringen und Bayern), ferner 13½ Mill. Doppel-
zentner Malz und 150 000 Doppelzentner Hopfen
für Bier, endlich 28 Mill. Doppelzentner Kartof-
feln, 4 Mill. Doppelzentner Getreide für Brannt-
wein. In der Verarbeitung des Biers sind
tätig (1907/08) im Brausteuergebiet (ohne die 4
südlichen Staaten, aber mit Luxemburg) 5528
Brauereien mit Aktienkapital von fast 1 Milliarde
(die Zahl derselben betrug 1883 noch 9556; die
kleineren werden allmählich alle aufgesaugt), für den
Branntwein im Reich 66 745 Brennereien (davon
rund 14.000 mit landwirtschaftlichen Betrieben ver-
bunden). Den Konsum vermitteln in Preußen
(1905) 202243 Gast= und Schankwirtschaften
(etwas über die Hälfte in Städten); von ständigen
Wirtschaften kommt eine auf 194, in Städten auf
169, in Berlin auf 129, auf dem Land auf 221
Personen; ein großer Teil derselben, zuweilen bis
zur Hälfte, sind in Händen der Brauereien. Dazu
kommt noch eine große Zahl von Flaschenbierhand-
lungen.
Der Grund zu dem gewaltigen Alkoholkonsum
liegt größtenteils in Vorurteilen und in der Macht
der darauf sich stützenden Trinksitten. Die Haupt-
vorurteile sind: 1) Trinken gibt Kraft. Das
könnte jedoch nur der Fall sein, wenn der Alkohol
ein Nahrungsmittel wäre; das kann er nicht sein,