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untereinander sowohl in Zivil= als in Strafsachen
nach Maßgabe der Kapitulationen, ohne jede
Mitwirkung osmanischer Justiz= oder anderer
Behörden. Zivilrechtsstreitigkeiten zwischen Aus-
ländern verschiedener Nationalitäten werden nach
Gewohnheitsrecht durch das Konsulargericht (ein
Vorsitzender, meist der Konsul selbst, und mehrere
aus den angesehensten Staatsangehörigen des
Konsularbezirks gewählte Beisitzer) der beklagten
Partei entschieden. Zivilstreitigkeiten zwischen
Ausländern und türkischen Staatsangehörigen
werden unter Mitwirkung des zuständigen Kon-
suls oder Dragomans des betreffenden Staats
vor den türkischen Gerichten entschieden, Rechts-
streitigkeiten über Immobiliarsachen und Zwangs-
vollstreckung in das unbewegliche Vermögen da-
gegen ausschließlich vor den osmanischen Ge-
richten. Bei Strafsachen ist, falls beide Parteien
der gleichen Nationalität angehören, das Kon-
sulargericht, nötigenfalls auch das zuständige
Heimatsgericht kompetent, und die türkischen Ge-
richte müssen die vom Konsul erbetene Rechtshilfe
gewähren. Sind Kläger und Beklagter Aus-
länder verschiedener Nationalität, so wird die
Strafsache durch das türkische Gericht entschieden;
das gleiche ist der Fall (jedoch unter Mitwirkung
des betreffenden Konsuls oder Dragomans), wenn
eine Partei osmanische Staatsangehörigkeit hat
(vogl. Art. Konsuln). Da die Ausländer so viel-
fach zu einem politischen Machtfaktor geworden
sind, trachtet die neue konstitutionelle Türkei da-
nach, die Konsulargerichtsbarkeit nach und nach
aufzuheben.
Die Rechtspflege wird in der Türkei in-
folge der geschichtlichen Entwicklung durch fünf
Kategorien von Gerichten ausgeübt. Eine völlige
Reorganisation des Gerichtswesens ist geplant
und eine darauf bezügliche Vorlage in nahe Aus-
sicht gestellt. In älteren Zeiten sprachen nur
mohammedanische geistliche Richter Recht zwischen
Mohammedanern und zwischen diesen und Un-
gläubigen; als aber die christliche Bevölkerung in
manchen Landesteilen das numerische Übergewicht
erhielt, wurde die Gerichtsbarkeit über diese meist
den geistlichen Führern der betreffenden Religions-
gemeinschaft übertragen (s. Abschn. IV). Mit dem
Verfall des türkischen Reichs entwickelte sich für
die Angehörigen der fremden Mächte die Konsular=
gerichtsbarkeit. Durch die Reformbewegung im
19. Jahrh., namentlich nach dem Krimkrieg, wurde
die geistliche Gerichtsbarkeit stark eingeschränkt und
ordentliche weltliche und Handelsgerichte eingeführt.
Die Zuständigkeit aller dieser Gerichte ist genau
abgegrenzt.
In die Kompetenz der geistlichen Gerichte fallen
heute fast nur mehr die Rechtsstreitigkeiten, die sich
unmittelbar aus der Religion des Islams und den
ihm eigentümlichen und von ihm ins Leben ge-
rufenen Rechtsinstituten ergeben, wie alle Fragen
bezüglich Eherecht, Kindererziehung, gesetzlichen
Unterhalt, Erbfolge, Erbschaftsteilung, Testa-
Türkei.
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mente, Abtreibung der Leibesfrucht, alle Streitig-
keiten, die sich auf das Wakufwesen, auf Darlehen
aus Mündel= und Stiftungsgeldern beziehen,
Fragen aus dem Obligationenrecht, das Sklaven-
recht, die Blutgelder (an Stelle der Blutrache)
und Schmerzensgelder sowie deren Verteilung, das
ius talionis u. dgl., in beschränktem Maß auch
ohne Rücksicht auf das Bekenntnis Patent= und
Immobiliarsachen. Die geistlichen Gerichte, je
eines in jeder Hauptstadt eines Wilajets, eines
Sandschaks und einer Kasa, bestehen aus dem
Richter (Kasi, Hakim, Naib) und dem Begut-
achter (Mufti), dessen von den Parteien zu be-
schaffendes Rechtsgutachten (fetwa) zur Unter-
stützung des Richters dient; in den größeren
Städten haben die Muftis vielfach einen oder
mehrere Gehilfen (Mussevid) zur Seite. Die Ber-
handlung ist kontradiktorisch vor dem Richter, der
die Entscheidung gibt. Von diesen erstinstanz-
lichen Gerichten geht die Berufung oder Revision
an den Konseil der geistlich-rechtlichen Unter-
suchungen, der am Scheichu'l-Islamiat gebildet
ist und an dem zwei Kasiasker (Oberrichter; einer
für die europäische, der andere für die asiatische
Türkei) in den Berufungsfällen, bei denen das
Streitobjekt den Wert von 5000 Piaster über-
steigt, entscheiden; wichtige Sachen können auch in
erster Instanz gleich an dieses Gericht verwiesen
werden. In Konstantinopel sind sechs geistliche
Gerichte erster Instanz, die etwas verschieden or-
ganisiert sind, und zwei höhere. Dem obersten
Gerichtshof in allen Streitsachen der geistlichen
Gerichtsbarkeit präsidiert der Scheichu'l-Islam
selbst. Dieser ist der höchste geistliche Richter und
zugleich der höchste Mufti; als solcher prüft er die
von den zuständigen Rechtsgelehrten abgegebenen
Rechtsgutachten und erteilt selbst solche, durch die
er den Anordnungen des Sultans die religiöse
Weihe verleiht. Von den Richtern der geistlichen
Gerichtsbarkeit werden die Kasiasker, der Ober-
richter (Molla) von Stambul, der in Ehesachen,
Unterhaltung Minderjähriger usw. im Bereich der
Stadt Stambul entscheidet, die Richter von Mekka,
Medina (und Kairo) vom Sultan ernannt (die
letzten drei auf Vorschlag des Scheichu'l-Islam),
die übrigen in der Regel vom Scheichu'l-Islam,
die Muftis ebenfalls von diesem auf Vorschlag der
Als erste und höchste Quelle der mohamme-
danischen geistlichen Jurisdiktion gilt der Koran
des Propheten, der aber dunkel ist und fast in jeder
Zeile der Interpretation bedarf; zweite Quelle ist
die (großenteils erfundene) Uberlieferung (Sunna)
von den Aussprüchen und Handlungen des Pro-
pheten, eine weitere die durch Gesetzesanalogie und
durch die Rechtsgelehrten der drei ersten islamiti-
schen Generationen gewonnenen Rechtssätze und
Entscheidungen. Die Summ aaller Bestimmungen,
die durch die Rechtslehrer aus diesen anerkannten
OQuellen gewonnen werden, ist die Scheria, das
Scheriatrecht. Das große Gebiet, das das geist-