Full text: Staatslexikon. Fünfter Band: Staatsrat bis Zweikampf. (5)

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arbeitung, Teppichknüpferei, Seidenweberei und 
spinnerei, Lederfabrikation, Metallverzierung, 
keramische Industrie u. dgl. Die Gründe für das 
Daniederliegen trotz der reichlich vorhandenen 
Rohstoffe sind verschiedene: das Gewerbe steckt 
vielfach noch im alten verrotteten Zunftwesen, der 
Türke hat wenig Unternehmungsgeist und tech- 
nisches Verständnis und mehr Neigung zur Land- 
wirtschaft, der Grieche und Armenier zu Handel 
und Schiffahrt; gegenüber der Konkurrenz der 
europäischen Großindustrie kann die türkische 
Kleinindustrie nicht aufkommen, da der Zollschutz 
gering ist (für alle Einfuhrwaren gleichmäßig 
11 %) und die einheimischen Waren beim Eintritt 
in eine andere Provinz Binnenzölle zu tragen 
haben; dadurch wurde unter anderem die früher 
blühende türkische Texlilindustrie fast ganz ver- 
nichtet. 
In handelspolitischer Beziehung steht die 
Türkei ungünstig da; sie wurde meist zur Ge- 
währung der unbedingten und allgemeinen Meist- 
begünstigung gezwungen und ist durch die Kapi- 
tulationen verpflichtet, bei Abänderung ihrer 
Zollsätze die Zustimmung der einzelnen Mächte 
einholen, d. h. erkaufen zu müssen. Die Ausfuhr- 
zölle sind auf 1%% vom Wert festgesetzt; die Ein- 
fuhrzölle betragen seit der erst nach langen Ver- 
handlungen durchgesetzten Erhöhung 1907 gleich- 
mäßig 11 %. Eine weitere Erhöhung um 4% 
hat die Türkei bisher nicht durchsetzen können so 
wenig wie die Anerkennung ihrer handelspolitischen 
Selbständigkeit, namentlich wegen des Widerstands 
von Großbritannien. 
Über die Ein= und Ausfuhr zur See sind seit 
einigen Jahren keine zuverlässigen Ziffern ver- 
öffentlicht worden. Die Einfuhr wertete 1906/07: 
520.5, die Ausfuhr 326,5 Mill. M; Hauptartikel 
der Einfuhr sind Baumwollstoffe, Zucker, Getreide 
und Mehl, Leinwand, Garne, Wollstoffe, Reis, 
Petroleum, Kaffee, Kaschmir, Teppiche, Eisen- 
waren usw., der Ausfuhr Nohseide und Kokons, 
Weintrauben. Getreide und Mehl, Mohair, Fei- 
gen, Kaffee, Opium, Häute und Felle, Walonen, 
Hülsenfrüchte, Erze, Obst, Olivenöl, Baumwolle, 
Wolle usw. Der Handelsverkehr vollzieht sich 
bauptsächlich mit Großbritannien (778 der Ein- 
und Ausfuhr), Osterreich-Ungarn, Frankreich, 
Deutschland, Italien. Rußland, Belgien, den 
Niederlanden, Bulgarien, Rumänien, Griechen- 
land usw. 
Der Verkehr ist im Innern noch großenteils 
auf Karawanen angewiesen, für die sich uralte 
Karawanenwege herausgebildet haben. Der Zu- 
stand der Straßen läßt im allgemeinen viel zu 
wünschen übrig. Die Eisenbahnpolitik der Türkei 
war lange Zeit unglücklich. Während und nach 
der Zeit des Krimkriegs wurden nur einige kleinere 
Stichbahnen gebaut. 1871 erhielt der Baron 
Hirsch, ein internationaler Großspekulant schlimm- 
ster Sorte, die Konzession zum Bau einer durch- 
Türkei. 
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stantinopel, mit Abzweigung nach Saloniki. Durch 
Bestechung im größten Stil gelang es ihm, das 
Geschäft so durchzuführen, daß er aus den von ihm 
auf den Markt geworfenen berüchtigten Türken- 
losen usw. einen ungeheuren Gewinn (mindestens 
160 Mill. Franken) zog unter empfindlicher Schä- 
digung aller Beteiligten, besonders der türkischen 
Regierung. Entgegen der eingegangenen Verpflich- 
tung baute Hirsch die Eisenbahn von der Meeres- 
seite her und schuf keine Verbindung mit dem 
mitteleuropäischen Bahnnetz, so daß Großbritan- 
nien inzwischen den türkischen Markt vollständig 
erobern konnte. Die Bahnen gingen später an die 
Orientbahngesellschaft über. Wie diese, so wurden 
auch fast alle übrigen Bahnen des Reichs, außer 
der Mekkabahn, mit ausländischem Kapital erbaut. 
Das Bahnnetz umfaßte 1909: 6458 km, davon 
1994 km in der europäischen, 4464 km in der 
asiatischen Türkei. Die wichtigsten Linien sind in 
Europa die Orientbahn (955 km), die Saloniki- 
Monastirbahn (219 km), die von Saloniki nach 
Adrianopel (511 km), in Asien die Anatolischen 
Bahnen (1032 km), die von Smyrna nach Hidin 
(516) und Cassaba (517), beide zur Verbindung 
mit den Anatolischen Bahnen, von den Syrischen 
Bahnen die von Beirut nach Hauran (247), von 
Ravak nach Aleppo (332), ferner die Bagdad- 
bahn (200 km), deren Fortführung bis Bagdad 
1911 endgültig konzessioniert wurde, und die 
Mekkabahn (an 1800 km). Eine große Zahl von 
Linien ist geplant und hat Aussicht auf Verwirk- 
lichung. 
Ein Schiffsverkehr auf Flüssen besteht in 
größerem Maßstab nur auf dem Euphrat und 
Tigris durch die Lynchgesellschaft. Die Seeschiff- 
fahrt wird zum größten Teil durch ausländische 
Schiffe vermittelt; die deutsche ist beteiligt be- 
sonders durch die Levantelinie, die Hamburg- 
Amerikalinie und die Allaslinie. Die Handels- 
flotte der Türkei ist an Zahl bedeutend (110 
Dampfer mit 69440 und 936 Segler mit 202600 
NRegistertonnen), an Wert gering; sie vermittelt 
hauptsächlich die Küstenschiffahrt. 
Neben der türkischen Post, um deren Reform 
nach europäischem Muster die Regierung eifrig be- 
müht ist, bestehen in der Türkei auch Posten meh- 
rerer Großmächte, deren Aufhebung die Regierung 
anstrebl. Deutschland hat Postanstalten in Kon- 
stantinopel (3), Smyrna, Beirut, Jaffa und Je- 
rusalem. Osterreich-Ungarn (1910) 32. Italien 8, 
Frankreich 24, Rußland 22, Großbritannien 4. 
Der Stand der Finanzen ist ungünstig; 
auch die konstitutionelle Türkei konnte bisher kein 
Gleichgewicht zwischen Einnohmen und Ausgoben 
herstellen; die finanzielle Bewegungsfreiheit ist 
durch die Gebundenheit der Türkei hinsichtlich 
der Zollpolitik gehemmt. Die Schulden sind 
durch die Verschwendung der Sultane und durch 
den Leichtsinn und die Unwissenheit der maß- 
  
gebenden türlischen Kreise in Geldangelegenheiten 
gehenden Hauptbahn von der Save nach Kon- 
unter dem absoluten Regiment enorm gewachsen.
	        
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