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Handlungen geschehen kann, welche nur auf Grund
der Anerkennung des Staats bzw. des Herrschers
zu erfolgen pflegen, so dürfen sie Handlungen des
aus dem Besitz der Staatsgewalt verdrängten
Herrschers nicht mehr als Regierungshandlungen
für den Staat anerkennen, also diejenigen Per-
sonen, welche von ihm an sie gesandt werden,
nicht mehr als Gesandte im Sinn des Völker-
rechts behandeln, auch nicht mehr bei ihm Ge-
sandte beglaubigen. Erkennen sie den neuen Zu-
stand nicht an, so ist die Zuerkennung der diplo-
matischen Vertretung dem abgesetzten Fürsten
gegenüber die Folge.
Daß der seiner Herrschaft beraubte Herrscher
die ihm entrissene Macht wieder zurückzugewinnen
suchen und hierzu sich auch der Hilfe anderer Mächte
bedienen kann, ist an sich klar, da er hierdurch nur
Gewalt gegen Gewalt setzt und der Usurpator nicht
mehr Beachtung seiner Herrschaft fordern kann,
als er selbst dem rechtmäßigen Herrscher gegenüber,
dessen Recht ja an sich nicht erloschen ist, gezeigt
hat; ebenso selbstverständlich ist sein Recht, gegen
die Neureglung der Dinge zu protestieren; bleibt
es bei dem Protest, so ergeben sich hieraus aller-
dings keinerlei rechtliche Folgen.
Verzichtet der vertriebene Herrscher bzw. seine
Nachkommen auf die Herrschaft zugunsten des
Usurpators, was ausdrücklich oder stillschweigend
Batikan — Venezuela.
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durch anerkennende Handlungen erfolgen kann,
z. B. durch Anbahnung völkerrechtlicher Be-
ziehungen zwischen dem Staat und dem neuen
Staat, der sich durch Loslösung gebildet hat, so
verwandelt sich dessen rechtswidriger Erwerb der
Herrschaft in einen gesetzmäßigen Erwerb; gelingt
es dagegen dem rechtmäßigen Fürsten, den Usur-
pator wieder zu verdrängen, so fallen damit alle
mit der Zwischenherrschaft als solcher in untrenn-
barem Zusammenhang stehenden Regierungsakte
von selbst fort, im übrigen sind die Handlungen
der Zwischenregierung in Gesetz und Verwaltung
von dem neu eintretenden Herrscher anzuerkennen,
können aber auf verfassungsmäßigem Weg wieder
beseitigt oder abgeändert werden.
Ein besonderer Fall der Usurpation ist die
Veränderung der Staatsform (Umgestaltung der
Monarchie in eine Republik oder umgekehrt). An
sich wird hierdurch in den völkerrechtlichen Be-
ziehungen des Staats nichts geändert; denn der
souveräne Staat gibt sich die Verfassung, welche
er selbst für gut findet. Daher besteht hier im all-
gemeinen auch kein Recht des Eingreifens anderer
Staaten; vielmehr haben die Grundsätze der
völkerrechtlichen Bedeutung einer Usurpation auch
hier uneingeschränkt Anwendung zu finden (val.
noch d. Art. Legitimität). -
[Menzinger, rev. Coermann.)
B.
Vatikan s. Kurie.
Venezuela. I. Geschichte. Venezuela ge-
hörte 1528/46 den Augsburger Welsern als spa-
nisches Lehen; fortan wurde es vom Vizekönig
von Peru regiert. 1739 dem neuen Vizekönigreich
Neugranada zugeteilt, 1776 ein eignes General-
kapitanat. Die Missionierung besorgten Domini-
kaner, Kapuziner, Augustiner und Jesuiten, das
erste Bistum war Caracas (1583). Die Spanier
beuteten die Mineralschätze aus, vernachlässigten
aber sonst das Land; die Erbitterung über die Be-
schränkung des Handels (vgl. d. Art. Peru) führte
schon im 18. Jahrh. zu Aufständen. Am 19. April
1810 begann in Caracas die Erhebung Süd-
amerikas, und am 5. Juli 1811 rief hier der
Kongreß die Republik aus. Doch erhielt Vene-
zuela seine Freiheit erst durch die Siege Bolivars
„des Befreiers“ und Paez' (1820/21), und
Bolivar vereinigte es 1819 mit Neugranada
(Colombia und Ecuador) zu einer Republik Co-
lombia. Nach Bolivars Tod 1830 trennte sich
Venezuela unter Paez von Colombia und bildete
eine eigne Republik, die im Frieden von Madrid
30. März 1845 von Spanien anerkannt wurde
und in den Verträgen mit Brasilien 1859 und
18883, Colombia 1891 und 1908 und England
1899 ihre definitiven Grenzen erhielt. Seit
Bolivar hatte der Staat zwölf Verfassungen, eine
Unzahl von Meutereien, Revolutionen, Pronun-
ciamentos und Bürgerkriegen; ein Element der
Unruhe ist besonders die Armee, da die Generäle
nach den höchsten Amtern und der Herrschaft über
die Staatskasse trachten. 1846/70 währte der
Kampf zwischen den Föderalisten (Liberalen) und
Unionisten, der durch die Bundesstaatsverfassung
vom 22. April 1864 zugunsten der ersteren ent-
schieden wurde; während dieses Kampfes wurde
1854 die Negersklaverei abgeschafft. An der Spitze
der Föderalisten riß 1870 Guzman Blanco die
Regierung an sich, und in den beiden nächsten
Jahrzehnten, während deren er oder seine Krea-
turen regierten, erfreute sich das Land relativer
Ordnung und Prosperität; 1873/77 säkularisierte
er die Klostergüter. Als Präsident Palacio 1890
sein Amt über die gesetzliche Zeit hinaus zu be-
haupten suchte, begann eine neue Periode von
Revolutionen; von den verschiedenen Prätendenten
siegte schließlich 1899 Cipriano Castro, ein ver-
schlagener und gewalttätiger Mestize, von Beruf
bald Mauleselhändler bald Bandenführer. Er
regierte ohne Rücksicht auf Kongreß und Justiz,
gab 1904 eine neue Verfassung und rief durch
Willkürakte gegen fremde Staatsangehörige und
Konzessionsgesellschaften und Beleidigung von Ge-