Full text: Staatslexikon. Fünfter Band: Staatsrat bis Zweikampf. (5)

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würdigen Tugenden, endlich der Unsterblichkeit 
der Seele, drei Wahrheiten der Philosophie, denen 
die drei großen Tatsachen der Geschichte ent- 
sprechen: Allgemeinheit der Religion, der Ehe, des 
Totenkults. — Das Kriterium der „neuen 
Wissenschaft“ behufs Auffindung des unwandelbar 
Wahren inmitten des nie ruhenden Flusses des 
Wirklichen ist der Gemeinsinn; auf seiner Über- 
einstimmung bei den Völkern beruht die Weisheit 
des Menschengeschlechts. Auf der Einheit des 
menschlichen Gedankens unter der zweifachen Form 
des Handelns und des Sprechens beruht die Lö- 
sung der großen Frage des Gesellschafts- 
charakters des Menschen. — Indem Entwicklungs- 
gang der Menschengesellschaft, der Zivilisation, 
kann man drei Alter, drei Perioden unter- 
scheiden: die göttliche oder theokratische, die heroische 
und die menschliche oder zivilisierte, entsprechend 
der dunkeln Vorzeit, der Zeit der Fabel und der 
Zeit der Geschichte. Zumal in der Sprachen- 
geschichte läßt sich diese Einteilung genau feststellen. 
Unsern heutigen Sprachen ging die Periode der 
metaphorischen und poetischen, ihr die der hiero- 
glyphischen und heiligen Sprache vorher. Vico 
will nur mit den zwei ersten Perioden sich beschäf- 
tigen, zunächst mit der ältesten, der der „poeti- 
schen Weisheit“ (zweites Buch), deren bis- 
herige Übertreibung für ihn das größte Hindernis 
des Fortschritts der Geschichtsphilosophie bildet. 
Bei der Prüfung der Vorstellungen, in 
welchen die Völker der poetischen Zeiten bei ihrer 
mangelhaften Naturerkenntnis lebten, er- 
sorscht Vico ihre Logik und Moral, ihre häusliche 
und öffentliche Okonomie, ihre Naturlehre und 
Kosmographie, ihre Astronomie und Geographie. 
Für ihn stehen die Zyklopen (Homer), die Riesen 
der profanen wie der heiligen Geschichte an der 
Spitze der Menschenentwicklung. Die schreckhafte 
Wirkung der Naturgewalten zwang die entsetzten 
Riesen zur Anerkennung einer höheren Gewalt 
(Jupiter): das ist der Ursprung des Götzen- 
dienstes, ein Produkt des Leichtglaubens, nimmer 
des Betrugs. Keine Macht als eine Schreckens- 
religion hätte so ial die stupide Anbeterei der 
rohen Gewalt und die auf ihr beruhende Verein- 
zelung der Menschen bannen, religiös keine 
andern als sinnliche Erscheinungen den unerläß- 
lichen Durchgangspunkt für eine Vernunft= und 
Glaubensreligion schaffen können. In anthropo- 
morphisierender Kindlichkeit stellten sich die ersten 
Menschen die Gesamtnatur als einen ungeheuern 
Leib voll Leben, Leidenschaften, Lebensäußerungen 
in Zeichen (Donner, Blitz) und geheimnisvoller 
Sprache vor (Divination, Mythologie, Muse), und 
aus ihren Beziehungen zu dieser Natur machte 
(boeta = creator) bie dichterische, fast materielle 
Einbildungskraft die Götter. Der noch wenig 
entwickelten mythologischen Wissenschaft seiner Zeit 
gegenüber erkannte Vico in dem antiken Götter- 
wesen die Symbole abstrakter Ideen. Die heroische 
Sprache knüpft an Eigennamen die idealen Volks- 
Vico. 
  
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typen; so ist Hermes der Träger der altägyptischen 
Erfindungen, Romulus der der alten Römer- 
verfassung, Herkules der der griechischen Heroen- 
arbeiten; Homer auf der Grenze der heroischen 
und der historischen Zeiten ist der vollendete Typus 
der Volkspoesie zur Zeit, da die Barbaren noch 
mit der Zeichensprache (Hieroglyphen) rangen. 
Überall geht der Prosa die Poesie vorauf. — Aus 
dem Ursprung der Religion, der Poesie und der 
Sprachen erklärt sich die Entstehung der an- 
fänglichen Gesellschaft. Der Anfang der 
Religion war auch der der Gesellschaft. Die von 
höherer Naturgewalt getroffenen Riesen fliehen in 
Unterbrechung ihres umherschweifenden Lebens in 
die Höhlen und gründen dort mit einer gewaltsam 
zurückgehaltenen Gefährtin die Familie; ihr 
erstes Haupt ist auch der erste Priester, als Träger 
der poetischen Weisheit der erste Lehrer und Seher, 
als absoluter Herr der Familie der erste König, 
der selbst in allem der göttlichen Gewalt botmäßig, 
ihr Hüter in theokratischer Ordnung wurde. — 
Die erste Erweiterung der Familie ergab 
sich als Schutzverhältnis der Unterdrückten durch 
die Starken, deren auf den Höhen gelegene Altäre 
das Asylrecht besaßen. Der Idealtyp dieser 
Starken war Herkules, und die Herakliden, seine 
Kinder, wurden die Erben der Weisheit. Nicht 
die Religion, sondern das Interesse begründete 
die Ausdehnung der Familie; es schuf das Skla- 
venverhältnis, bis das Anwachsen der Skla- 
venzahl zu ihrer Erhebung und zur Abtretung von 
Ländereien und zur Milderung des Abhängigkeits- 
verhältnisses führte. So entstanden die ersten 
Agrargesetze, die Klientelschaft, das 
Lehen. — Das dritte Buch: Die Entdeckung 
des wirklichen Homer, kann nur als An- 
hang des zweiten angesehen werden, insofern Vico 
hier methodisch die Entstehung des Heidentums, 
die Begründung der griechischen Zivilisation als 
der Grundloge der europäischen festzustellen sucht 
durch den Beweis, daß Homer ein kollektives 
Symbol des Griechenvolks gewesen sei, das seine 
Eigengeschichte in Nationalgesängen verherrlicht. 
Den Verlauf der Geschichte der Na- 
tionen (viertes Buch) wieder aufgreifend, stützt 
und erweitert Vico seine bisherigen Darlegungen 
mit der Geschichte des Zivilrechts, die gleich 
der Geschichte der Regierungen allen Wechselfällen 
unterworfen war. Für die meisten Juristen bietet 
das Recht meist nur isolierte, von ihren Ursachen 
losgetrennte Tatsachen. Warum war die antike 
römische Jurisprudenz so sehr mit religiösen 
Feiern, mit Mysterien umgeben? Wie flach, erstere 
als Trug der Patrizier zu erklären! Recht,. Ver- 
nunft, das von oben Angeordnete, enthüllten sich 
in erster Zeit durch die Auspizien, die Orakel und 
andere Zeichen; die Jurisprudenz konnte nur 
Wissenschaft der Religionsriten sein, 
die Justiz nur Beobachtung gewisser religiöser 
Sitten. Vor den acta legitima beugte sich der 
Römer in abergläubischer Verehrung; Heirat,
	        
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