Full text: Staatslexikon. Fünfter Band: Staatsrat bis Zweikampf. (5)

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diktion als Großmacht in die Völkerrechtsgemein- 
schaft, eine Stellung, die sich nach dem Krieg mit 
Rußland 1904 noch bedeutend befestigt. Ein engerer 
Zusammenschluß einzelner Staaten erfolgte durch 
den Zwei-, später Dreibund, das französisch-rus- 
sische Bündnis und schließlich durch die Entente- 
politik Englands. Ob die neueste Annäherung 
Rußlands an Deutschland und Osterreich von Be- 
stand ist und damit das Verhältnis unter den 
europäischen Großmächten beeinflussen wird, steht 
noch dahin. 
Die lange Friedensperiode seit 1878 hat den 
engeren Zusammenschluß der Staaten, das erhöhte 
Bewußtsein der Kultur= und Interessengemein- 
schaft sowie der internationalen Rechtsgemeinschaft 
stark gefördert. Durch zahlreiche Verträge zur 
Verfolgung gemeinsamer Interessen, durch Ab- 
schluß der überraschend angewachsenen Unionen 
wurde ein internationales Verwaltungsrecht be- 
gründet und dadurch wie durch immer häufigere 
Anwendung des Schiedsgerichts in völkerrecht- 
lichen Streitigkeiten zur Erhaltung des Friedens, 
zur Konsolidierung der Kultur= und Interessen- 
gemeinschaft der Staaten und zur vielversprechen- 
den Fortbildung des Völkerrechts beigetragen. 
Einseitige Betonung individueller Interessen hat 
der Erkenntnis von der Solidarität der Interessen 
und der Uberzeugung Platz gemacht, daß durch 
kollektives Vorgehen zur Wahrnehmung gemein- 
samer Interessen zugleich auch die individuellen 
Interessen der einzelnen Staaten geschützt und ge- 
fördert werden. Die kollektive Tätigkeit der Staa- 
ten wandte sich einmal in überaus reichem Maß 
der geistigen und materiellen Kulturpflege und 
sodann der Milderung und Kodifizierung des 
Kriegsrechts zu. Hierher gehören die Genfer Kon- 
ventionen von 1864 und 1906 zwecks Verbesse- 
rung des Loses der verwundeten und gefangenen 
Krieger, die Petersburger Konvention, welche den 
Gebrauch gewisser Geschosse im Krieg verbot, und 
endlich vor allem die beiden Haager Konferenzen 
von 1899 und 1907 sowie die Londoner See- 
kriegskonferenz von 1908/09. (Vgl. für den In- 
halt der Abkommen die Art. Krieg, Neutralität 
und Prisengerichtsbarkeit.) Der Wert der Haager 
Konferenzen liegt aber nicht allein in der schon er- 
wähnten Kodifizierung des größten Teils des 
Kriegs= und Neutralitätsrechts, sondern auch, viel- 
leicht in noch höherem Maß, in der Reglung des 
Verfahrens in völkerrechtlichen Streitigkeiten durch 
das sog. Friedensabkommen. Damit ist die Grund- 
lage für die praktische Durchführung und Siche- 
rung des Völkerrechts gegeben, zugleich aber auch 
der gute Wille der Staaten zum Ausdruck ge- 
kommen, die durch die Völkerrechtsordnung ge- 
wonnenen und gesicherten Kulturgüter nicht durch 
einen leichtsinnig vom Zaun gebrochenen Krieg 
aufs Spiel zu setzen, wenngleich anderseits der 
Traum eines ewigen Weltfriedens als Utopie zu 
bezeichnen ist. Welche Bedeutung der neuesten 
Schiedsgerichtsbewegung Nordamerikas für das 
Volksbildung. 
  
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Völkerrecht zukommt, muß erst die Zukunft 
lehren. 
Die Wissenschaft des Völkerrechts hat in 
den letzten beiden Perioden unter dem Einfluß der 
Fortschritte in den andern Zweigen der Rechts- 
wissenschaft einen gewaltigen Aufschwung genom- 
men. Durch streng juristische Behandlung des 
positiven Rechtsstoffes sucht sie sich den übrigen 
Rechtsdisziplinen ebenbürtig an die Seite zu stellen. 
Überaus zahlreich sind die systematischen Werke 
geworden, deren Verfasser allen Kulturnationen 
Europas und Amerikas angehören. Erwähnt seien 
von Deutschen: J. L. Klüber (1821), A. W. 
Heffter (1844, besorgt von Geffcken 1888), J. C. 
Bluntschli (1868, 1878), F. v. Holtzendorff, 
Handbuch des Völkerrechts in Verbindung mit 
einer Reihe von Gelehrten (1885/89), A. v. Bul- 
merincq (1887), K. Gareis (1888, 21891), E. 
v. Ullmann (1898, 21908), Fr. v. Liszt (61909); 
ferner die Engländer Oke Manning, Phillimore, 
Travers Twiß, Hall, Lorimer, Lawrence, West- 
lake, Oppenheim; die Nordamerikaner Kent, 
Wheaton, Woolsey, Halleck, Taylor, Moore; die 
Franzosen Pradier Foderé, Bonfils, Despagnet, 
Piedelicbre; die Italiener Casanoba, Fiore, 
Carnazza-Amari, Pierantoni, Bigliati; der Russe 
v. Martens, der Schweizer Nivier, der Belgier 
Nys und der Argentinier Calvo u. a. — Anzeit- 
schriften kommen in Betracht: Revue de droit 
international (Brüssel, seit 1869); Rerue 
général de droit international public (Paris, 
seit 1894); Zeitschrift für internationales Privat- 
und öffentliches Recht (seit 1891); Zeitschrift für 
Völkerrecht und Bundesstaatsrecht (seit 1906); 
Jahrbuch des öffentlichen Rechts (seit 1907); 
Annuaire de I’Institut de droit international 
(seit 1877) sowie verschiedene sonstige in= und aus- 
ländische juristische Zeitschriften. — Von Quellen- 
sammlungen seien angeführt der umfassende Re- 
cueil des principaux traités etc. von G. F. 
v. Martens (seit 1761 bis heute); Das Staats- 
archiv, begründet von Agidi (seit 1861). Kleinere 
Sammlungen sind die von Fleischmann (1905) 
und von Rohland (1900). Ebers.) 
Volksbildung. lI. Wesen der Bildung. 
II. Volksbildung und Kirche. III. Die modernen 
Volksbildungsbestrebungen. IV. Die Mittel der 
Volksbildung: 1. Vorträge und Unterrichtskurse; 
2. Volksbibliotheken, Lesehallen, Verbreitung guter 
Lektüre; 3. Volksunterhaltung. V. Geschichtliches.) 
I. Wesen der Bildung. Um das moderne 
Volksbildungswesen zu würdigen, ist zunächst der 
Begriff der Bildung nach christlicher Auffassung 
klarzulegen. Bildung im Sinn der bildenden 
Tätigkeit ist die Entfaltung der Kräfte des mensch- 
lichen Geistes durch Befreiung aus der Gewalt 
der physischen oder ethischen Mächte, welche ihn 
gebunden halten, durch Aufnahme, Aneignung, 
innerliche Assimilierung von geistigen Gütern. 
Vom Standpunkt der christlichen Weltanschauung 
bezeichnet Bildung den Vorgang, durch welchen
	        
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