Full text: Staatslexikon. Fünfter Band: Staatsrat bis Zweikampf. (5)

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das natürliche Menschenkind in ein Gotteskind 
umgewandelt wird, ähnlich wie das Wort in 
seiner nächsten Bedeutung in der Kunstsprache den 
Vorgang bezeichnet, durch welchen der Bildhauer 
einen rohen Block in ein Kunstwerk umformt. 
Bildung als Tätigkeit des Bildners ist jene Ar- 
beit, wodurch die geistigen, sittlichen, ästhetischen 
und religiösen Kräste und Anlagen, die in der gott- 
ebenbildlichen Menschennatur schlummern, geweckt, 
aus der Potenz in Energie umgewandelt werden, 
um den Menschen in den Besitz der höchsten Güter, 
der Wahrheit, Sittlichkeit, Religion und des ästhe- 
tischen Genusses zu setzen. Sie bringen im Men- 
schen die Menschenwürde erst zur vollen Entfaltung, 
ihre Mitteilung bildet darum auch den Gegen- 
stand der Volksbildung. Bildung als Zustand 
ist der Anteil des einzelnen Menschen an dem 
Ideal edler, harmonisch ausgestalteter Menschlich- 
keit (Ehrhard, Die Grundsätze der christlichen 
Volksbildung 4, 12). Sie ist, entsprechend den 
Grundkräften des Geistes, von doppelter Art: eine 
intellektuelle und eine sittliche. Erstere erstrebt Be- 
freiung des geistigen Menschen aus dem Druck 
und der Enge der Unwissenheit, letztere aus den 
Banden der Sinnlichkeit und Selbstsucht. Ver- 
standesbildung hat nur dann vollen und wahren 
Wert, wenn sie mit der sittlichen verbunden ist. 
Anderseits ist es auch wieder wahr, daß, besonders 
auf unserer heutigen Kulturstufe, eine echte mora- 
lische Durchbildung ohne ein gewisses Mindest- 
maß von Verstandesbildung undenkbar ist, weil 
innerhalb der mannigfachen geistigen Einflüsse 
unseres auch geistig differenzierten Kulturlebens 
Urteilsfähigkeit und eine Summe positiver Kennt- 
nisse notwendig ist, um die Lüge von der Wahr- 
heit, den Schein von den Tatsachen zu unter- 
scheiden. Die Bildung muß den Verstand wie den 
Willen formen. Es ist deswegen die Einteilung 
der Bildung in eine intellektuelle und eine ästhe- 
tische, wie sie Paulsen (System der Ethik II/# 64) 
vornimmt, und die Aufzählung der Bildungs- 
mittel: Philosophie und Wissenschaft, Kunst und 
Dichtung, keine erschöpfende. Charakterbildung, 
Kräftigung des Willens für das Gute bliebe ja 
damit vom Gebiet der Bildung ausgeschlossen. 
Vielfach wird heutzutage der Wert der intellek- 
tuellen Bildung, der ja gewiß über jedem Zweifel 
steht, überschätzt und die moralische Bildung dar- 
über vernachlässigt, und zwar nicht bloß auf den 
Hochschulen, sondern schon in den Volksschulen. 
Man glaubt durch Wissen allein den Menschen 
auch gut zu machen. Der Gedanke einer ethischen 
Wirkung des Wissens gehört der Antike an, welche 
sehr einseitig Bildung und Sittlichkeit für ein und 
dasselbe nahm. Es liegt im Begriff der Bildung, 
daß das, was von außen aufsgenommen wird, 
innerlich verarbeitet und zum geistigen Eigentum 
der Persönlichkeit gemacht werde und damit auf 
Charakter und Lebensführung bestimmend einwirke 
(Mannheimer, Die Bildungsfrage als soziales 
Problem 6 ff). 
Volksbildung. 
  
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Von großer Bedeutung ist die Bildung für das 
Berufsleben des einzelnen wie für ganze Be- 
rufskreise, d. h. für die Gesamtheit einer durch 
Berufsinteressen verknüpften Klasse. Die Mehrung 
der Bildung erscheint als eines der wichtigsten 
Mittel für eine Klasse, zu einer höheren Lebens- 
haltung emporzusteigen und nach erfolgtem Auf- 
schwung die Besserung der materiellen Lage in 
menschenwürdiger Weise zu nutzen. Ein großes 
historisches Beispiel bietet der Arbeiterstand Eng- 
lands im 19. Jahrh., der aus gedrückter Lage 
zu einer bedeutenden Verbesserung seiner Lebens- 
haltung sich emporrang. Diesem Erfolg gegen- 
über muß der landläufige Einwurf, Bildung 
mache den Arbeiter bloß begehrlicher, verstummen, 
denn wir sehen nicht bloß eine Hebung des wirt- 
schaftlichen, sondern auch des sittlichen 
Niveaus. Hier zeigt sich wieder, wie eng die Ver- 
bindung von Okonomie und Moral ist. „Wohl 
ist“, schreibt der Historiker der sozialen Bewegung 
der englischen Arbeiterschaft, „die Erweiterung des 
Wissens und die Schärfung des Verstands noch 
nicht unbedingt Veredlung des Wesens, Hebung 
des Sittlichen, aber wo diese noch nicht folgt, pflegt 
jene doch wenigstens die Roheit des Willens zu 
schwächen. Daß aber auch eine Verfeinerung der 
Sitten eingetreten ist, ist schon aus den Ver- 
gnügungen zu schließen, in denen der Arbeiter- 
stand gegenwärtig vielfach Freude und Erholung 
sucht: Bildung, die verschiedenen Sports, Aus- 
flüge auf das Land und an die See, Blumenzucht, 
alles Dinge, die vor zwei Menschenaltern so gut 
wie unbekannt waren. . Ferner beweist die 
bewunderungswürdige Ausbreitung der Gewerk- 
vereine, Hilfskassen, Erwerbs= und Wirtschafts- 
genossenschaften aller Art, wie sehr die hauswirt- 
schaftlichen Tugenden der Sparsamkeit und Vor- 
aussicht und im allgemeinen die Selbstzucht 
zugenommen haben müssen" (v. Nostitz, Das Auf- 
steigen des Arbeiterstands in England 11900!] 
724 f). Ein ebenso erfreuliches Anzeichen ist, daß 
in den Arbeitergenossenschaften das Trinken zweifel- 
los sehr abgenommen hat (ebd. 726). 
II. Volkbildung und Kirche. Eine ge- 
wisse allgemeine Volksbildung ist für unsere Zeit 
sehr zu wünschen, auch vom Standpunkt des 
Christentums und der Kirche. Da die Angriffe 
auf den christlichen Glauben auf fast allen Ge- 
bieten des menschlichen Wissens erhoben werden, 
so wird es für jeden, auch für den Mann der 
körperlichen Lohnarbeit, zur unabweisbaren Pflicht, 
sich aus verschiedenen Wissenszweigen, aus Philo- 
sophie, Geschichte, Naturwissenschaften, Gesell- 
schaftslehre Aufklärung zu verschaffen, um solche 
Angriffe abzuwehren, die von den Sendboten des 
Unglaubens, von einer frivolen Presse, von sozia- 
listischen Agitatoren gemacht werden, sei es durch 
gesunde Lektüre oder durch den Besuch apologeti- 
scher Vorträge oder durch Befragen von Sachver- 
ständigen (ugl. Hößle, Abendunterhaltungen über 
religiöse Zeit= u. Streitfragen in Wechselgesprächen
	        
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