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3. Moderne Verfassungsurkunden
(Geschichte; Interpretation; Inhalt). Unter den
zivilisierten Staaten gibt es heute keinen mehr,
der in vollem Umfang ohne geschriebene Ver-
assung ist. Wohl gibt es Staaten ohne Ver-
fassungsurkunden (England, Ungarn) und ohne
formelle Verfassungsgesetze, aber ein Teil der ma-
eriellen Verfassungsrechte ist heute überall kodi-
fiziert.
In der Geschichte der politischen For-
derung einer Verfassungsurkunde spielte lange
Zeit der Hinweis auf die Institution eines
Landes eine große Rolle, das selber bis heute
noch keine Verfassungsurkunde hat; es war der
Hinweis auf die englische Magna Charta vom
Jahr 1215. Man hat zwar in neuester Zeit
schärfer festgestellt, daß im Lauf der Zeit und ge-
rade bei späteren politischen Kämpfen manches
erst in die Magna Charta hineininterpretiert
wurde, daß manche Illusionen über die ursprüng-
liche Bedeutung derselben sich allmählich heraus-
bildeten; man hat insbesondere energischer auf den
Charakter lehnsrechtlicher Auseinandersetzung hin-
gewiesen, daß die Barone nämlich weniger
staatsrechtliche Garantien oder gar eine Landes-
repräsentation als vielmehr Erleichterung lehns-
rechtlicher Leistungen erstrebten. Aber trotz allem
bleibt bestehen, daß die Magna Charta in der
Geschichte der Anschauungen und Vorstellungen
von der Bedeutung einer Verfassungsurkunde eine
große Rolle gespielt hat und daß sie doch viele
Entwicklungskeime enthielt, in deren weiterer
Entfaltung man in der modernen Zeit den Wert
einer Verfassungsurkunde erblickt (uogl. Ludwig
Rieß, Die Legende von der Nagna Charta,
in Preuß. Jahrb. 141 (1910] II 222/238;
R. Schmidt a. a. O. II, 2. TI (19031) 490 ff;
W. Nothschild, Der Gedanke der geschriebenen
Verfassung in der englischen Revolution (1903.).
Die ersten Verfassungsurkunden im modernen
Sinn entstanden 1776 und in den folgenden
Jahren in den unabhängig gewordenen Kolonien
Nordamerikas, nachdem diese schon unter englischer
Herrschaft als Vorläufer der Verfassungsurkunden
ihre Charten oder Freiheitsbriefe besessen hatten.
In Europa war die erste Verfassungsurkunde die
französische Verfassung vom 3. Sept. 1791; sie
ist entstanden durch die Verfassungsgesetzgebung
von 1789 bis 1791, deren Resultat zum Schluß
in ein einheitliches Instrument zusammengefaßt
wurde. Diese Verfassung von 1791 ist für die
Folgezeit sehr bedeutsam geworden als Vorbild
solcher monarchischer Verfassungen, die auf dem
demokratischen Prinzip der Volkssouveränität kon-
struiert sind, d. h. auf der Vorstellung, daß die
konstituierende Gewalt primär dem Volk zustehe.
Ihr gegenüber steht als nicht minder bedeutsam
durch ihr Prinzip und ihre Vorbildlichkeit die
Verfassung des wiederhergestellten Königtums
Frankreichs, die Charte constitutionelle Lud-
wigs XVIII. vom 4. Juni 1814, die das mon-
Staatsverfassung.
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archische Prinzip als das primäre erklärt und
lediglich konstitutionelle Beschränkungen in der
Ausübung der monarchischen Gewalt feststellt.
Unter dem Einfluß der Charte haben sich die
deutschen Verfassungen aus der Zeit von 1814 bis
1848gebildet, namentlich die der süddeutschen Staa-
ten aus den Jahren 1818/20, nach der Julirevo-
lution auch von einer Reihe der größeren mittel-
und norddeutschen Staaten. Auf dem Vorbild der
französischen monarchischen Verfassung von 1791
mit ihrem demokratischen Prinzip ist aufgebaut
die belgische Verfassung vom 7. Febr. 1831, und
diese ist wieder die direkte Vorlage geworden für
die deutschen Verfassungen seit 1848; insbeson-
dere ist — in geschichtlich merkwürdigem Dok-
trinarismus — die preußische Verfassung in
ihrer Anordnung weitgehend der belgischen Ver-
fassung nachgebildet worden (ogl. Smend, Die
preuß. Verfassungsurkunde im Vergleich mit der
belgischen 1904; J. Seitz, Entstehung und Ent-
wicklung der preußischen Verfassungsurkunde im
Jahr 1848. Mit dem bisher ungedruckten Vor-
entwurf. Greifswalder Dissert. L19091). Ebenso
weist die Verfassung des Deutschen Reiches den
Einfluß der belgischen Verfassung auf.
Die preußische Verfassung beruht kraft des
ganzen geschichtlichen und rechtlichen Tatbestands
auf monarchischem Prinzip, auf der Vorherrschaft
des Monarchen, der in sich die Einheit der Staats-
gewalt verkörpert; infolge der Anlehnung an das
Verfassungsideal der damaligen Zeit, an die bel-
gische Verfassung, ist dieser Grundsatz von dem
Monarchen als Träger der einheitlichen Staats-
gewalt in der preußischen Verfassungsurkunde nicht
ausdrücklich ausgesprochen worden, wie es dagegen
im preußischen Landrecht II, 13, §|1 geschehen
war. (Ebenso in der französischen Charte von
1814 und in der bayrischen Verfassungsurkunde
von 1818, Tit. 2, § 1; vgl. Bornhak, Die welt-
geschichtliche Entwicklung des Konstitutionalismus,
in Internationale Wochenschrift für Wissenschaft,
Kunst und Technik II (1908] 427/438. Eine
eigne Auffassung der preuß. Verfassungsurkunde
vom 31. Jan. 1850 bietet G. Anschütz, Deutsches
Staatsrecht, in v. Holtzendorff-Kohler, Enzyklo-
pädie der Rechtswissenschaft II I/6/1904) 476:
schärfer und klarer als die meisten andern Staats-
grundgesetze der Deutschen bringe sie das Prinzip
zum Ausdruck, welches, vielfacher Anfechtung zum
Trotz, in der Ordnung des modernen Rechts= und
Verfassungsstaats nun doch einmal die Rolle eines
alles tragenden konstruktiven Grundprinzips spiele:
das Prinzip der Gewaltenteilung, Art. 45. 62. 86.
An der Tatsache, daß wir in Preußen bzw. in
Deutschland überhaupt de lege lata die Ge-
waltenteilung hätten, sei nichts zu vertuschen, aber
auch nichts zu tadeln. Denn diese Gewalten=
teilung, so wie sie unser positives Staatsrecht auf-
genommen hat, gefährde, entgegen einem in der
deutschen Staatsrechtswissenschaft vielfach ver-
breiteten Urteile, weder die Einheit und Unteil-